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normalzeitHELMUT HÖGE über die neuen Nomaden

Nocturne Elends-Karawanen

Zu den neuen Nomaden zählt man gemeinhin die flexiblen Yuppies, aber auch viele standorttreue Penner (bzw. solche, die kurz davorstehen) kommen – vornehmlich nachts – in Bewegung: Dann ziehen ganze Trosse von Post zu Post und versuchen – meist vergeblich – ihr Glück am Geldautomaten. Aber stereotyp bekommen sie jedesmal zur Antwort: „Der Computer kann z. Zt. Ihre Karte nicht bearbeiten, bitte versuchen Sie es später noch einmal!“

„Das kann doch nicht wahr sein“, ruft der eine oder andere Postkunde verzweifelt. Und will damit sagen: „Ich hab doch genug Geld auf dem Konto!“ – Ist aber schon verunsichert: „Vielleicht gab es eine Kontenpfändung oder jemand anders hat heimlich alles abgeräumt, vielleicht war es auch nur ein Maschinenfehler …“ Ein ebenfalls vom Automaten Abgewiesener behauptet: „Das muss ein Zentralcomputer- oder Softwarezusammenbruch sein. Alle, die es hier in den letzten zehn Minuten versucht haben, wurden abgewiesen, und ich komme gerade vom Automaten an der Möckernbrücke, da war es genauso.“ „Scheiße!“, schimpft der nächste, und steckt seine EC-Karte wieder ein, „ich brauche unbedingt heute nacht noch Kohle!“ Die Umstehenden nicken, einer reicht „West“-Zigaretten herum. „Wo steht denn der nächste Automat?“, fragt eine Frau mit Federboa und hat sogleich einen Verbesserungsvorschlag: „Könnten die nicht wie die Apotheken hier wenigstens Schilder hinstellen, wo draufsteht, welcher Automat an welchem Tag dienstbereit ist?“ – „Ach, die Post!“, entgegnet einer, und ein anderer sagt: „Da haben doch nur noch Sozialhilfeempfänger ein Konto, und mit denen können sie machen, was sie wollen!“ Ein Afrikaner neben ihm nickt, es scheint ihn sogar zu freuen, dass der Verdacht sich langsam von den Miesen auf den Konten der Leute weg auf die Technik und den Service der Postbank verlagert.

Man könnte schon fast von einer solidarischen Gemeinschaft reden, die sich kurz vorm Kampf befindet, eine subproletarische Bankeninitiative. Vorerst ist man noch bei der Erörterung der Ursachen der Misere. Aber es werden jetzt um diese Zeit – null Uhr 10 – fast minütlich mehr! Ein Teil kommt aus den umliegenden Kneipen – und hat seinen letzten Euro verprasst, der andere Teil versucht jetzt noch einmal sein Glück: Ein neuer Tag – um Mitternacht springt der Computer um, und man kann wieder neues Geld kriegen: Wenn die Maschine mitspielt.

Aus dem U-Bahn-Schacht strömt außerdem noch eine kleine Gruppe, die es bereits beim Bankautomaten der Post am Bahnhof Friedrichstraße versucht hat. Nun ist der Automat in der Torstraße ihre letzte Hoffnung. Man lässt sie deswegen gewähren – und klärt sie nicht darüber auf, dass es hier auch nichts zu holen gibt. Aber alle schauen ihnen gespannt zu. Und jedes enttäuschte EC-Gesicht erhärtet ihre These, es hier mit einem Schweinekonzern zu tun zu haben.

Der Afrikaner erzählt, in seinem Asylheim in Nauen sei es genau dasselbe: „Manchmal fahren wir die ganze Nacht durch Brandenburg auf der Suche nach einem funktionierenden Geldautomaten!“ Die Frau mit der Federboa, die in Prenzlauer Berg wohnt und in Zehlendorf arbeitet, ergänzt: „In den Schönhauser Allee Arcaden gibt es für hunderte von Kunden nur einen Automaten, der ständig überlastet ist. Dafür haben sie draußen einen unter anderem Banknamen, der 5 Euro für eine Abbuchung nimmt. In Zehlendorf gibt es dagegen für höchstens 5 Postkunden am Tag zwei Automaten. Ist das nicht eine Riesensauerei?!“ – „Ja, so hält man die kleinen Leute auf Trapp“, seufzt der West-Zigaretten-Verteiler, „aber was machen wir nun?“

Die Gruppe weiß noch keinen Rat, einige verpissen sich bereits. Ich rufe ihnen nach: „Bei den Sparkassen funktionieren die Postbank-Karten auch nicht, seit vorgestern schon nicht mehr!“ Wir Restlichen bleiben zusammen – und malen uns genüsslich aus, was passiert, wenn die Geldautomaten der Post weiter streiken und sich ihnen auch noch alle anderen Bankcomputer anschließen: Massenselbstmorde, Verzweiflungsaufstände und eine Hungersnot unvorstellbaren Ausmaßes?

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