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nebensachen aus istanbulSummer in the city

Wenn der Tag am Morgen bereits gelaufen ist

Als der kranke türkische Premierminister Bülent Ecevit im Juni seine raren öffentlichen Auftritte im Pyjama absolvierte, sprach die Presse von einem heißen Sommer, der dem Land bevorstehe. Regierungskrise, möglicherweise Neuwahlen, eine Machtübernahme durch finstere islamistische Kräfte und so fort.

Mittlerweile ist klar, dass es im November vorgezogene Neuwahlen geben wird, dass die Islamisten in den Umfragen weit vorn liegen, dass möglicherweise in wenigen Wochen im Nachbarland Irak ein Krieg beginnt, der die Türkei schwer in Mitleidenschaft ziehen wird.

Und was bewegt die Leute? Der heiße Sommer. Allerdings nicht so, wie die Medien es sich gedacht hatten. Istanbuls Bewohner stöhnen über den wortwörtlich heißen Sommer. Während Mitteleuropa unter Regenfluten versinkt, erleben die Länder am östlichen Mittelmeer bislang kaum gekannte Hitzerekorde. „So schlimm“, sagt unsere Nachbarin, die ihr Leben lang in Istanbul gewohnt hat, „war die Stadt noch nie.“

Es ist nicht nur heiß, sondern so, wie wenn man im Botanischen Garten das Tropentreibhaus betritt. Nach wenigen Sekunden kleben einem die Kleider am Leib, weil die Luftfeuchtigkeit etwa 95 Prozent beträgt. Nur dass es eben nicht regnet.

Kürzlich rief mich ein Freund nach seinem Istanbulbesuch aus dem 50 Grad heißen Kairo an und schwärmte begeistert, wie angenehm das trocken-heiße Wüstenklima Ägyptens gegenüber Istanbuls feucht-heißer Schwüle sei.

Hier ist am Morgen der Tag eigentlich bereits gelaufen. Völlig verschwitzt wacht man mit dem Gefühl auf, Blei in den Knochen zu haben. Der Gang zum Bäcker ist schon eine Herausforderung, der Rest des Tages eine Qual.

Erst gegen 19 Uhr abends fängt das Leben an. Man kann langsam Luft holen, ans Essen denken und beim ersten Bier den Sonnenuntergang bestaunen. Ab 22 Uhr füllen sich dann die Straßen und Parks. Um ein Uhr nachts sind ganze Großfamilien am Bosporusufer versammelt – es erinnert ein wenig an die Situation im Sommer vor drei Jahren. Damals bebte die Erde, und die Leute mussten im Freien kampieren, weil sie Angst hatten, in ihre einsturzgefährdeten Häuser zu gehen. Heute haben sie Angst, ins Bett zu gehen, weil sie dort vor Hitze nicht schlafen können.

Bis jetzt hat sich in Istanbul die Praxis, seine Betten oben auf dem Flachdach des Hauses aufzustellen, noch nicht durchgesetzt. Aber wenn der Treibhauseffekt weiter so zunimmt, wird uns wohl nichts anderes mehr übrig bleiben.

In dieser Situation zeigt sich auch, wie weit die Politik sich bereits vom gemeinen Volk entfernt hat. Im Fernsehen sieht man lauter Politiker, die von einem Treffen zum anderen hetzen, ganz offensichtlich von einem klimatisierten Konferenzraum zum nächsten. Während die Zeitungen wichtig, wichtig, wichtig tun, denk Normalbürger Osman, wie er sich ohne Geld, da arbeitslos, Linderung von den Qualen des Sommers verschaffen könnte.

Ein großer Teil der Bewohner der Stadt besinnt sich in diesen Zeiten auf das Dorf, aus dem man ursprünglich kam und wo weitläufige Verwandtschaft vielleicht noch ausharrt. Doch viele dieser hitzegeplagten Städter mussten erleben, dass der Treibhauseffekt nur wenige hundert Kilometer enfernt ganz andere Auswirkungen hat.

Anfang Juli, als in Dresden noch niemand an Hochwasser dachte, ging an der türkischen Schwarzmeerküste bereits ein verheerendes Unwetter nieder. Die Wassermassen zerstörten nicht nur die meisten der wunderbaren Teeplantagen, sondern rissen auch etliche Menschen mit in den Tod. Kommt die Klimakatastrophe? Am südöstlichen Rand Europas kann man über diese Frage nur noch müde lächeln. JÜRGEN GOTTSCHLICH

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