modernes antiquariat: Franz Tumlers literarischer Essay von 1953 über seine Wahlheimat Berlin
Grauschleier über der Stadt
Auf den ersten Blick sieht dies schmale Büchlein mit Fotografien aus dem Jahr 1953 aus wie irgendeine triviale Publikation für Berlinbesucher.
Erst bei näherem Hinsehen erkennt man seine Qualität. Zuerst bleibt man an den Fotos hängen, die kein geringerer als der bedeutende Berlinfotograf Fritz Eschen gemacht hat: die enttrümmerte Stadt, deren abgeräumte Ruinenfelder bereits vom Grün der ersten Nachkriegsjahre überwachsen sind. Belebte Cafés am Kurfürstendamm. Flüchtlinge und Sonntagsausflügler im Tiergarten mit Reichstagsruine im Hintergrund. Die deutsch-deutsche Grenze, die sich plötzlich durch Stadt und drum herum liegende Landschaft zieht.
Irgendwann liest man sich fest im Text zu diesen Bildern und merkt: Das ist auf keinen Fall Touristenprosa. Ein literarischer Essay über Berlin. Fast der Prototyp für eine Art der Stadtbetrachtung, wie sie sich spätestens in den 80er-Jahren einbürgern sollte, als man die Stadt als Text zu verstehen begann, und den Beschreibenden als dessen Leser. „Ein merkwürdiges Bild, das ich zeichnen möchte“, heißt es also, „Sand, Wasser und Weite, die drei Elemente der Stadt, die nach der Belagerung und dem Feuersturm von 1945 übrig geblieben sind.“
Der österreichische Schriftsteller Franz Tumler, von dem dieser Text stammt, lebte seit 1950 in Berlin, wo er unter anderem mit Gottfried Benn befreundet war. Mit Benn teilte er das Schicksal, mit den Nazis sympathisiert und den Irrtum zu spät begriffen zu haben. Vor dem Krieg als Nachfolger Adalbert Stifters gefeiert und fast schon ein berühmter Autor, blieb er bis zu seinem Tod 1998 nur noch Eingeweihten bekannt, obwohl er seine Vergangenheit nie beschönigte.
Ende der 60er-Jahre leitete Tumler zeitweise die Literaturabteilung der Akademie der Künste. Der junge Peter Handke hat ihn verehrt, und der Einfluss Tumlers und seines Berlin-Bildes ist noch deutlich spürbar im Drehbuch, das Handke zu Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“ geschrieben hat.
Es ist ein seltsames Bild, das Tumler zeichnet: eine Riesenstadt, die geprägt ist von einer eben vergangenen Katastrophe. Aber diese Katastrophe wird nie beim Namen genannt und könnte deshalb auch eine Naturkatastrophe gewesen sein.
Alles ist Landschaft, die Menschen in den Cafés und Flüchtlingslagern fügen sich in sie ein wie Bäume und Gehöfte in eine Berglandschaft. Die Ruinen gleichen manchmal Schalentieren, dann wieder Skeletten, die nur den Hauch eines Anstoßes bedürfen, um einzustürzen. Die rotgelben Stadtbahnzüge sehen bei Tumler aus wie Fasane, die durch die Weite „dahinpfeilen“.
Rosa Wolken vor grauem Himmel, Erinnerungen an einen Tanz auf dem zugefrorenen Grunewaldsee: Wenig steht für sich, alles ist schon mit Bedeutung aufgeladen im Augenblick der Beschreibung. „Das ist nämlich das Eigentümliche an den Landschaften dieser Stadt“, schreibt Tumler, „sie wirken umgekehrt wie historische Erinnerungsstätten. Der historische Stoff wird ihnen erst von der Gegenwart geliefert, vom gestrigen, heutigen und morgigen Tage.“ ESTHER SLEVOGT
Franz Tumler: „Berlin. Geist und Gesicht“, mit Fotos von Fritz Eschen. Constantin-Verlag, München und Stuttgart 1953 (vergriffen)
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