moderne sklaven: „Das ist definitiv mein letzter unbezahlter Job“
Die JVA-Praktikantin
Während ihres Praktikums muss Anja Schmidt (Name geändert) immer wieder ins Gefängnis. Dort sitzt sie mit Sexualstraftätern in einem Raum. Die 26-Jährige aus Halle steht kurz vor ihrem Diplom in Psychologie – Schwerpunkt Kriminologie und Forensik. Gerade absolviert sie ein Praktikum bei der Senatsverwaltung für Justiz im Schöneberger Nordsternhaus.
Teil ihrer Arbeit sind auch Besuche in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Parallel führt die Studentin Interviews in Haftanstalten für ein Forschungsprojekt der Kriminologischen Forschungsstelle Niedersachsen. Genaueres möchte Schmidt nicht sagen. 120 Straftäter hat sie bisher befragt. Alles Männer. Aus diesem Grund möchte sie Anja Schmidt genannt werden, obwohl sie eigentlich gar nicht so heißt. Auch auf dem Foto möchte sie nicht erkannt werden. „Ich verliere sonst meine Glaubwürdigkeit“, sagt sie forsch.
Die freiwilligen Interviews der Strafgefangenen basierten auf dem Vertrauen in ihre Diskretion, erklärt sie. Die Anonymität hat aber noch einen anderen Grund. Es ist bereits vorgekommen, dass Anja Schmidt von Männern auf der Straße angesprochen wurde, die sie vorher einmal im Gefängnis befragt hatte. Unangenehm sei das gewesen, obwohl es bisher nie zu irgendwelchen Zwischenfällen kam. Ihre Adresse gibt sie nur an gute Freunde weiter, ihre Telefonnummer steht nicht im Telefonbuch. Und bei Interviews setzt sie sich immer in die Nähe der Tür.
Einmal kam es vor, dass sie während eines Gesprächs beschimpft wurde. Schlagfertigkeit sei wichtig, meint Schmidt, und sich das Gespräch nicht aus der Hand nehmen lassen. Angst hat sie nur ganz am Anfang gehabt, mittlerweile hat ihre Neugier gesiegt. „Ich will aus den Leuten etwas herauskitzeln, was sie sonst nicht gesagt hätten“, beschreibt sie den Reiz ihrer Arbeit.
Das Praktikum im Senat ist bereits ihr zweites bei einer Berliner Behörde. Vorher arbeitete Schmidt bei der Landespolizeischule im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie. In ihrem jetzigen Praktikum beim Referat für Aus- und Fortbildung in der Senatsverwaltung nimmt sie an Seminaren und Evaluationsprojekten für Mitarbeiter des Justizvollzugs teil.
Spannende Aufgaben, wie sie sagt. Leider werde keines der Praktika bezahlt. Deshalb wird Schmidt nach zwei Monaten vorzeitig abbrechen. Obwohl sie in Berlin umsonst wohnen konnte, hat das Ersparte nicht für volle drei Monate gereicht. Es sei definitiv ihr letztes unbezahltes Praktikum. Sobald sie ihr Diplom in der Tasche habe, werde sie nicht mehr umsonst arbeiten. „Ich will nicht die Preise verderben, ich habe ja einen Marktwert.“
Trotzdem: „Materielle Dinge stehen für mich nicht im Vordergrund“, bekennt die angehende Psychologin. Obwohl es klischeehaft klinge: Hinter ihrer Motivation, mit Häftlingen zu arbeiten, stecke die naive Frage: „Warum lebt der eine ganz normal und warum wird der andere straffällig?“
Dass sie sich so intensiv mit Sexualstraftätern befasst und diese auch zum Thema ihrer Diplomarbeit gemacht hat, habe ihr bei manchen Menschen Verwunderung eingebracht. „Kümmer dich doch lieber um die Opfer!“, heiße es oft. Dann erzählt Anja Schmidt gerne ein Gleichnis: „Du stehst an einem Fluss, und ständig treiben schreiende Kinder im Wasser, die nicht schwimmen können. Du springst rein und holst eines raus. Dann kommt aber noch ein Kind und noch ein Kind. Du kannst sie also gar nicht alle retten. Da ist es doch eine bessere Idee, flussaufwärts nach der Ursache für die ertrinkenden Kinder zu schauen. Da steht nämlich ein Mann, der immer neue Kinder ins Wasser wirft.“
Anja Schmidt kann gut erzählen, ihre Moral von der Geschicht klingt aber wie ein Broschürentitel von der Senatsverwaltung: „Täterarbeit ist Opferschutz.“ SEBASTIAN HEINZEL
Ob im Justizvollzug oder im Bundestag, Praktika gibt’s überall, Geld fast nie. Doch ohne die Schnupperkurse ist eine Bewerbung chancenlos. Das bedeutet oftmals eine 40-Stunden-Woche, einziger Lohn ist die Hoffnung auf die Zukunft. Die taz beendet mit dieser Folge die Serie über die neuen Billigarbeiter.
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