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matthias urbach über NebenwirkungenEine Woche voller Montage

Falsche Medaillen, blaue Briefe und unerwiderte Solidarität: Die Deutschen schlittern in eine kollektive Depression

Einem Deutschen kann man es nicht recht machen. Mehr als 24 Medaillen haben „unsere Athleten“ bereits in Salt Lake City erbeutet. Nach amerikanischer Zählweise (alle Medaillen zählen) ist Deutschland schon seit langem glänzender Erster im Medaillenspiegel. Doch hierzulande zählt nur Gold. Und davon hatte Norwegen bis vorgestern mehr.

Auch fanden die Deutschen, dass ihr Team in den falschen Disziplinen gewann: „Wieder nur Blech: Deutsche Tränen bei Olympia“ titelte am Montag die Boulevardpresse, weil Hilde Gerk vier Zehntel zu langsam vom Hang düste. Erst als gestern das deutsche Olympiateam an Norwegen vorbeizog, kam ein bisschen Freude auf.

Nichts gegen eine gepflegte schlechte Laune. Kommen wir nicht alle besser durch den ersten Arbeitstag der Woche, weil wir uns sagen, Montage sind Misttage? Und das, obwohl psychologische Studien belegen, dass es uns an allen Tagen gleich schlecht oder gut geht – der angeblich miese Montag nur ein Mythos ist? So viel Trauerarbeit muss sein. Schließlich gilt es dem Wochenende angemessen nachzutrauern. Und wie schnell könnte die schlechte Laune am Montag eskalieren, würden wir uns nicht ständig sagen: Nimm’s leicht, ist halt wieder so ein verdammter Montag.

Doch die deutsche Stimmung gerät aus dem Lot. Erst kam der 11. 9., dann die Rezession, schließlich verschwand die D-Mark. Selbst der Deutsche hält so was nicht aus: Die Laune ist rekordverdächtig schlecht. Das führt dann zu etwas, das nicht Sinn der Sache war: Depression.

Nehmen wir den blauen Brief. Da verlangt die Opposition monatelang teure Konjunkturprogramme – bis sie spitzkriegt, dass Brüssel an einem blauen Brief formuliert, weil Deutschland nicht genug spart. Also giftet die Merkel den Eichel an, so ein Brief sei ja peinlich und gefährde Waigels schönen Stabilitätspakt. Damit drängt sie den Streber Eichel so richtig in die Ecke. Und der Kanzler wird böse und beschließt: Der Brief darf nicht kommen, koste es, was es wolle. Also gibt Eichel den Brüsselern alles, was die wollen. Und die wollen, dass die Deutschen noch schneller sparen.

Weil also die Union der Regierung eins reinwürgen wollte und die Regierung sich um keinen Preis von der Union eins reinwürgen lassen wollte, lassen sich nun alle von Brüssel was reinwürgen. Und machen eine Politik, die keiner wollte. Und alle haben garantiert viel schlechte Laune. Super.

Unrealistische Pläne wie ein ausgeglichener Haushalt bis 2004 und zielloser Aktionismus, wie ihn die Opposition pflegt, das sind klinische Symptome einer Manie – der kleinen Schwester der Depression. Dazu kommen Rededrang, Ablenkbarkeit und sprunghaftes Denken. Weil alle Angst haben vor dem „deutschen Sonderweg“, äffen die Deutschen gerne nach. Und bis das Land einigermaßen so weit ist, liegt das Vorbild längst in Scherben, wie die Japan AG oder die amerikanische New Economy. Schlimmer noch: Weil die Deutschen letztlich nicht wissen, was sie wollen (und wollen dürfen), können sie es auch nicht erreichen. Die Deutschen – ein Volk ohne Traum.

Ein paar Idealisten wollten das nicht länger mitmachen, nannten sich Achtundsechziger und begannen den Marsch durch die Institutionen. Aus dem Marsch wurde ein Schaufensterbummel, und so kam Rot-Grün verspätet ins Kanzleramt. Deshalb durften sie als Erstes den Kosovo-Krieg mitmachen – und dann den Afghanistan-Feldzug. Und lieferten sich so dem amerikanischen Sonderweg aus.

Nur warum? Vielleicht haben die Achtundsechziger damals zu viel Western geguckt. Hätten sie doch besser hingeschaut: Schließlich waren Winnetou und die anderen Ureinwohner das erste Ziel im Kampf gegen den Terror.

Deutschland macht immer noch den alten Fehler: Es vergleicht sich stets mit den Besten. Und weil die meistens besser sind, macht das auf Dauer depressiv.

Ganz anders die USA: Sind die mal so richtig depressed, vergleichen sie sich einfach mit Nordkorea, Iran und Irak, nennen die drei die „Achse des Bösen“ – und fühlen sich wieder so richtig überlegen. Wie aus dem Lehrbuch.

Die Amerikaner bewundern Deutschlands viele Medaillen und verachten gleichzeitig seine „uneingeschränkte Solidarität“. Haben Deutsche denn keine eigenen Interessen? Und munter tun sie mit der EU, was bei den Russen schon so toll funktioniert hat: die blöden Nörgler einfach totrüsten.

Also schnüren die Deutschen kleinlaut Sparpakete, zählen Arbeitslose und V-Leute – da reden die Amis wenigstens nicht rein. Das anzuschauen ist so langweilig, dass man als Beobachter wirklich übel drauf kommt.

Fragen zu Nebenwirkungen? kolumne@taz.de

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