london calling: Gibt es ein Nachtleben ohne Teletubbies, Cornflakes und Faltencreme?
KINDER FROH, UND ERWACHSENE ERST
Seit ich zwölf war, ist London inneres Sehnsuchtsziel von jugendlichem Aufbegehren gewesen. Und nun bin ich endlich mal für länger als ein paar Tage dort, und jugendliches Aufbegehren findet nicht statt. Die offizielle Popkultur scheint sich nicht zuletzt auch hier darauf verständigt zu haben, dass der Weg vom Vorschulfernsehen (Christina Aguilera, bis vor kurzem Mickymaus-Club-Moderatorin) direkt ins Reich der dritten Zähne führt (Tom Jones, der Tiger bei den diesjährigen Brit Awards). Adoleszenz wird eingeebnet, „werd mal erwachsen!“ vorauseilend spätestens mit zwölf trainiert, und was eben noch wie ein Kinderspiel aussah (Handys halten, Posen üben), ist jetzt schon Erwachsenenalltag. Funktionierenwollen als Pubertätskampf?
Und falls die alte Weisheit noch eines Beweises bedurfte, dass Jugendkulturgeschichte sich nur als Furz wiederholt: Robbie Williams dreht an der Schraube der ewigen Stones-Beatles-Rivalitäts-Nummer und fordert Liam Gallagher vor laufenden Kameras – wie dramatisch! – wegen irgendeines gegenseitigen Beleidigungsproblemchens zum Boxkampf heraus. „Ich setz 100 Riesen von meinem Geld, du setzt 100 Riesen von deinem Geld!“ – worauf du einen lassen kannst.
Wie trostlos all das, gäbe es nicht wenigstens Garage: Artful Dodger, „Rewind Selecta“, sexy Ragga-House-Musik mit brillanten Stop-and-go-Mikrorhythmen ist monatelang in den britischen Charts. Und tatsächlich verströmen die Piraten-Radiostationen, auf denen die neusten Garage-Hymnen rauf und runter laufen, in geglückten Momenten das Londoner Irrsinnsflair von delirierendem Übermut, westindischem Cockney, plappriger Hitzigkeit – von Jugend. Bloß blitzt in den Promoter-Werbeeinblendungen, mit denen sich die Sender finanzieren, schon gleich wieder die feist saturierte Geschäftsmännigkeit auf: mit Pfannenreiniger-Verkäuferstimme wird irgendeine Clubnight zum Superorgasmus aufgebrezelt. Die Linernotes zu der ansonsten leckeren „Pure Garage“-Doppel-CD lesen sich ähnlich: „ ...die Pläne für 2000 sehen noch größer und besser aus, mit brandneuen Clubs und noch mehr Promotern.“
Na danke, wir sehen schon die Schlangen von Leuten, die sich zwei Stunden die Füße platt stehen, um sich für 45 Mark Eintritt darauf überprüfen zu lassen, ob sie auch dem „smarten“ Dresscode entsprechen: keine Sneakers, keine Jeans (Ausnahme Designerjeans), keine Baseballkappen. Wo man hinschaut: jedes aufblitzende Stück Jugend wird von seinen ins Früh- oder Spät-Adoleszente verlegten Surrogaten in die Mangel genommen: eingeklemmt zwischen Teletubbies-Lolitas und Lachfaltencreme-Unternehmern.
Bizarrstes, monsterbackigstes Menetekel: neulich das Vorprogramm der Spätvorstellung von „Toy Story 2“. O.K., das ist in erster Linie ein Film für Kinder, aber die liegen längst im Bettchen, während ein überwiegend angetrunkenes Sohoer Pub-Publikum mit einem komplett auf Kinderherzen abgerichteten Werbeblock amüsiert wird: Kellogg's, Chadbury-Schokolade, L'Oréal-Shampoo jetzt auch für Kids (Slogan: „Weil auch WIR es wert sind“). Nicht, dass auch ich es mir nicht wert wäre, aber bei allem surrealen Spaß könnten die doch mal wieder die früher so beliebte Werbezielgruppe der 16- bis 38-Jährigen ansprechen.
Komisch: mit all dem gesagt, müsste mein Armageddon ja in alten Popmusikern personifiziert sein, die was Kindisches an sich haben. Genau nicht – Jugend wird in dem Fall ja Jugend überlassen, und nicht zahnlos verlängert. Erst sah ich die Skatalites, Durchschnittsalter ca. 80 Jahre, einen Club zwei Stunden lang mit dem von ihnen Anfang der Sechziger in Jamaika erfundenen Ska-Beat in ein einziges seliges Hüpfkonzert verwandeln – und selbst aus dem James-Bond-Thema eine Art Kinderlied machen. Dann spielte Van Dyke Parks in der Queen Elizabeth Hall, wo ältere Damen in blauen Uniformen den Zuspätgekommenen (hier wird pünktlich angefangen) mit kleinen Taschenlampen zum Sitzplatz geleiten. Der alte Beach-Boys-Weggefährte saß am Klavier wie ein Achtjähriger, großer Kopf, die Beine, kaum am Boden, hin und her schwingend, aufgedreht und versunken zugleich, wie Peanuts' Schröder – und spielte unter anderem „Jump!“, Titelsong seiner für Kinder gemachten CD über den Brer Rabbit, den schelmischen Karnickel-Kollegen, der sich regelmäßig mit Fuchs und Bär anlegt.
Und zuletzt Randy Newman in der Royal Festival Hall, mit dem London Philharmonic Orchestra: Symphonisierung, sonst so ziemlich die schlimmste Todsünde, war hier genau die angemessene Wahl der Mittel für die großartigen, musicalhaften Songs seiner letzten Platte „Bad Love“, die den klarsten und gelungensten Versuch überhaupt darstellt, das Alternder-Rockmusiker-Syndrom sich selbst aufessen zu lassen.
Das Publikum wird angelernt, den Refrain von „I'm dead but I don't know it“ mit einem herzhaften „He's dead, he's dead“ zu vervollständigen, und als wäre das noch nicht genug, vergleicht sich Newman auch noch in zwei weiteren Songs mit „froschigen“ Vorstadt-Ehemännern und alten Knackern, die mitten in der Nacht zum Pissen aufstehen müssen. Um schließlich „You've got a friend in me“ anzustimmen, seinen freundlichen Song aus dem „Toy Story“-Soundtrack, herzergreifend brüchig, quäkig. Der Frosch geküsst, das Märchen erzählt, und hinaus in die Nacht, Rewind Selecta.
JÖRG HEISER
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