kurve ohne zähne:
Der Kollege Ligner, Redakteur einer überregionalen Tageszeitung, war in schlechter Verfassung, als er vorgestern mit einstündiger Verspätung zu unserem Umtrunk in einer Berliner Gastwirtschaft eintraf. „Ich komme gerade vom Arzt“, stöhnte er, „Kiefernoperation. Drei Zähne mussten gezogen werden.“ Dafür sah er noch recht gut aus, sein Gesicht war gar nicht geschwollen. „Ich bin ja auch nicht operiert worden“, klärte er uns auf, „sondern die arme Kurve.“
Kurve heißt seine Katze. Seit drei Tagen habe sie nichts gegessen, er sei in Sorge gewesen, sagte Herr Ligner, den wir bisher fälschlicherweise für einen rohen Kerl gehalten hatten. Um die Katze zum Tierarzt zu bringen, musste sie jedoch erst einmal eingefangen werden. Das aber habe sich angesichts ihres scheuen und misstrauischen Wesens erwartungsgemäß als schwierig erwiesen. „Wenn ich auf dem Bett liege und lese, kommt sie aber gern dazu“, so Ligner. Also begab er sich aufs Bett und täuschte vor, er läse. „Ich habe sogar regelmäßig umgeblättert, um sie in Sicherheit zu wiegen“, erzählte er, „aber sie schlich argwöhnisch nur ums Bett. Mein Versuch, sie hinterrücks zu packen, scheiterte kläglich.“
Mit Hilfe unseres beruflich antrainierten Vorstellungsvermögens stand uns die Szene klar vor Augen. Denn immerhin ist unser Kollege zwar recht wendig – so sehr, dass es ihm zuzutrauen ist, eine Katze aus liegender Position heraus einhändig am Nacken zu packen, alsdann das Buch fortzuschleudern und mit der zweiten Hand die Hinterpfoten zu ergreifen. Oder auch nur eine Hinterpfote. Die andere Möglichkeit, sich – immer noch vorgeblich lesend – auf das Tier zu rollen und es so in die Gewalt zu bekommen, schlossen wir aus. Bei aller Wendigkeit ist unser Kollege auch kräftig, sogar stattlich gebaut, und sicherlich hatte er die Katze nicht beschädigen wollen.
Andererseits, überlegten wir, musste deshalb die Katze beim zwingend folgenden Bodenkampf alle Vorteile auf ihrer Seite haben, sie wäre immer schneller als der Jäger. Die Lösung des Problems: „Du hast sie mit einem Käscher gefangen“, brüllten wir unisono und voller Bewunderung. Wir lagen falsch.
Ligner hatte zu einer List gegriffen: anderthalb Katzen-Tranquilizer, verborgen in allerfeinster fränkischer Leberwurst. Wenige Minuten später bewegte sich die Katze nur noch in Zeitlupe, sodass es Herrn Ligner quasi im Vorbeigehen gelang, sie in einen Karton zu verfrachten und zum Tierarzt zu transportieren.
Nun lag Kurve zu Hause im Postoperationsschlaf. Frau Ligner saß an ihrem Krankenbett, während Herr Ligner im Viertelstundentakt vor das Wirtshaus trat und sich per Mobiltelefon erkundigte, „wie es um Kurve steht“. Ein normales Gespräch war mit ihm nicht zu führen. Während wir die Weltlage debattierten, zog er seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Foto des Fellknäuels. Ungewöhnlich früh verließ er die Kneipe und eilte im Taxi nach Hause. Um Mitternacht kam der erlösende Anruf: „Kurve ist aus dem Koma aufgewacht. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut.“
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