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kritisch gesehen: „fräulein else“ am theater lübeckHöchst heutig, aber auch sehr introvertiert

Fräulein“, „42.000“ und „15 Minuten“. Diese drei Wörter malt Else (Anna-Lena Hitzfeld) mit korallenem Lippenstift in großen Buchstaben auf drei Plexiglaswände. Und diese drei Wörter bilden die ungleiche Gleichung dieses Abends. „Fräulein Else“ getitelt, bringt ihn Johanna Retzer (Regie und Fassung) in Lübeck auf die Bühne.

In der – exakt vor 100 Jahren erschienenen Monolog-Novelle von Arthur Schnitzler verbringt die Advokatentochter Else gerade Urlaub in einem Kurort, als sie eine Nachricht ihrer Mutter erreicht: Es drohe der finanzielle Ruin, wenn dem Vater nicht jemand eine große Summe leihe. Letzte Hoffnung ist der zufällig ebenfalls im Kurort weilende, wohlhabende Kunsthändler Dorsday. Als Else, allen Mut zusammennehmend und die eigene Scham überwindend, die Bitte um das Darlehen an den älteren Mann richtet, konfrontiert dieser die 19-Jährige mit einer Bedingung: Er gäbe ihr das Geld, wenn er Else für eine Viertelstunde nackt betrachten dürfte. Hin- und hergerissen zwischen Scham und Stolz und dem Druck der Eltern zerbricht Else schließlich.

Auch in Retzers Fassung zerbricht die Hauptfigur. „Ich träume. Ich bin müde. Ich bin wütend. Ich fliege. Ich träume“, murmelt sie am Ende tonlos. Wie ein in sich zusammengesunkenes Fragezeichen sitzt Anna-Lena Hitzfeld dann in ihrem pastellblassen Zimmer, das Charlotte Oetter (Bühne und Kostüme) für sie entworfen hat. Wann und ob sie, wie in Schnitzlers Fassung, Schlaftabletten genommen hat, bleibt ungesagt. Ihr anfängliches Kichern und Lachen aber ist verstummt – ihr Lebensmut schon lang. Mit Lucilectrics „Weil ich ein Mädchen bin“, mit einer Live-Kamera und mit Tüllstoffen, die sich Hitzfeld mal kokett, mal verschämt um den Körper drapiert, inszeniert Retzer ihre moderne Überschreibung. Sie springt durch die gängigen Social-Media-Plattformen, streift #metoo-Debatten und thematisiert die gängige und ständige Selbstinszenierung (des Körpers). Kurz: Sie überträgt das innere Ringen der Hauptfigur möglichst heutig ins Heute.

Kam bei Schnitzler die Bitte der Mutter etwa noch per Expressbrief geflattert, ist es nun eine säuselnd-fordernde Sprachnachricht (Stimme: Astrid Färber). Und Hitzfelds Else ist ein (zunächst) selbstbewusstes Girlie, das sein Duckface perfekt beherrscht. Zugleich aber ist sie ein Versuchsobjekt, ausgestellt in einem von allen Seiten einsehbaren Schaukasten. Mal scheinen seine Plexiglasscheiben Spiegel zu sein, mal sind es Wände mit Raum für Notizen. Doch so gut Retzer manche Übertragung in die Gegenwart gelingt und so erschreckend aktuell der Grundkonflikt noch ist: Dieser als innerer Monolog konzipierte Text bleibt introvertiert. Und spätestens nach der Sprachnachricht fragt man sich, warum Else ihre Mutter eigentlich nicht einfach mal zurückruft – kein Guthaben mehr? Katrin Ullmann

Weitere Termine: Sa + So, 6. + 7. 7.,

Theater Lübeck/Studio

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