kritisch gesehen: auftakt des festivals „theaterformen“ in hannover: Von Vampiren lernen
Barrierefreiheit und Inklusion steht bei „Theaterformen“-Chefin Anna Mülter ganz oben auf der Agenda. 2023 geht es ihr darum, Begegnungen hörender und tauber Menschen ebenbürtig zu ermöglichen und gerade die Kunst Gehörloser zu feiern: als stark visuell geprägten, höchst performativen Ausdruck einer Minderheitenkultur, die das zeitgenössische Theater inspirieren könne. Mit an Bord ist etwa die taube Gastkuratorin Rita Mazza, die den ebenfalls tauben Performer Daniel Kotowski geladen hat. Der stolzierte drei Abende lang als „Feeler“ durchs Publikum, fragte per Handy: „How do you feel?“ – und lud zur getippten Antwort ein.
Zur Eröffnung war in Kooperation mit dem Schauspiel Hannover „Was ihr nicht sehen könnt“ als Uraufführung zu erleben, ein Stück der chilenischen Regisseurin und Autorin Manuela Infante, selbst Stammgast bei den „Theaterformen“. Ein brillant kauziges Komiker:innen-Trio gibt sich bald als Vampire zu erkennen, die als Bühnenarbeiter jobben und sich vom Publikum nun zu Unterhaltungsangeboten genötigt sehen.
Also sprechtanzen sie durch Modethemen, zelebrieren eine chorische Schreitherapie. Mal Slapstick-putzig, mal hintergründig albern, mal schlurfig langweilig – oder auch mal rührend ernst: Immer wieder lodert als Kernthema die Angst vor der Fragilität des Konstrukts „Gesundheit“ auf. Infante erklärt im Programm den Vampir zur Kreatur, die uns daran erinnert, dass Krankheit, Verfall oder Tod sich nicht verdrängen, verleugnen, begraben lassen. Ein Abend, nicht traurig bis verzweifelt, sondern im leichtfüßigen Gründeln freudig entspannt; ein lustvoll verspieltes Memento mori.
Alessandro Schiattarellas Inszenierung „Zer-brech-lich“ ist die zweite Uraufführung und als Kooperation mit der Staatsoper ein geradezu provozierender Gegenentwurf zu den virtuos abgerichteten Tanzkörpern des dortigen Balletts: In der Konzertperformance wird fröhlich frei inkludierend gezeigt, dass eine körperliche Einschränkung nicht als Manko überspielt werden muss, sondern als eigene Qualität ästhetisch genutzt werden kann: Drei Performerinnen stellen sich und ihre diversen Körper vor, verstehen erlebte Diskriminierung als Kraftquelle und die eigene Verletzlichkeit als zu akzeptierende Wirklichkeit, ja: als Zeichen des Menschseins. Alle singen mehr oder weniger oder gar nicht gekonnt die übergroßen Popsongs von Gina Été, erkunden die Möglichkeiten eines eigenen Motionskanons.
Dramaturgisch, musikalisch und choreografisch weiß diese Arbeit nicht durchweg zu überzeugen – wie sie allerdings Behinderung sichtbar macht, sie zum Tanzen, Klingen und Sprechen bringt: Bestechend.
Jens Fischer
Das Festival geht noch bis zum 2. Juli: www.theaterformen.de
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