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■ intershopSpring aus dem Fenster Von Wladimir Kaminer

Das Asylrecht in Deutschland ist launisch wie eine Jungfrau, deren Vorlieben und Entsetzen nicht nachvollziehbar sind. In den einen Asylbewerber verliebt sich das Asylrecht auf den ersten Blick und lässt ihn nicht mehr weggehen. Den anderen tritt es in den Arsch.

Neulich auf der Schönhauser Allee traf ich einen alten Bekannten, der offensichtlich Pech mit dem Asylrecht hatte. Schon zweimal versuchte er, sich beliebt zu machen, doch immer wieder wurde er abgeschoben. Ein anderer an seiner Stelle hätte es längst aufgegeben. Er verlor aber trotzdem nicht die Hoffnung und schleuste sich jedesmal illegal zurück.

Nun lief er durch die Stadt mit einem vergipsten Bein. Als ich ihn fragte, was passiert sei, erzählte er mir die dramatische Geschichte seiner letzten Verhaftung. Die Polizei hielt ihn an, weil er nicht angeschnallt war. Zu ihrer Begeisterung stellten sie fest, dass er einer die vielen gesuchten Männer war, die schon seit langem abgeschoben werden sollten. So landete er im Abschiebeknast.

Er kannte die Spielregeln: Bevor die Abschiebung vollzogen wird, bekommt der Illegale die Möglichkeit, seinen letzten Aufenthaltsort aufzusuchen und seine Sachen einzupacken. Im Knast besuchte ihn ein Freund und brachte ihm ein paar Kleinigkeiten. Als die beiden sich verabschiedeten, flüsterte der Freund ihm zu: „Spring aus dem Fenster.“

Einen Tag später, als mein Bekannter in Begleitung von zwei Polizisten zu seiner Wohnung in der Greifswalder Straße geführt wurde, wo sie ihm die Handschellen abnahmen, folgte er dem Rat seines Freundes und sprang vom zweiten Stock aus dem Fenster.

Der Freund hatte ihn nicht betrogen. Er wartete unten und hatte auch alle notwendigen Vorkehrungen zum Auffangen getroffen. – Aber er stand unter dem falschen Fenster. Außerdem schätzte mein Bekannter die Distanz falsch ein, er sprang zu weit und prallte gegen eine Straßenlaterne. Glücklicherweise konnte er sich an einem NPD-Plakat „Mut zu Wahl – wähl National“ festhalten, mit diesem rutschte er langsam nach unten. Sein Freund schleppte ihn ins Auto. Nur das NPD-Plakat, besudelt mit Ausländerblut, blieb zurück.

Einige Stunden später stellte mein Bekannter fest, dass sein Bein immer mehr anschwoll. Er ging zum „Chirurgen“: ein illegaler russischer Arzt, der in seiner illegalen Praxis illegale Patienten von ganz legalen Krankheiten heilt. „Der Chirurg“ untersuchte ihn und diagnostizierte einen Beinbruch. Jetzt muss mein Bekannter mindestens einen Monat lang im Gips rumlaufen – und das Autofahren kann er erst mal vergessen. „Eines habe ich aber aus der Geschichte gelernt“, sagte er zu mir und nahm einen kräftigen Zug aus meiner Zigarette: „Man muss sich immer anschnallen!“

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