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in fußballlandStimmiges Gesamtfalsches

CHRISTOPH BIERMANN hat den Spielverlauf des WM-Finales 1974 durcheinander geworfen und erbittet psychologischen Beistand

Christoph Biermann (46) liebt Fußball und schreibt darüber

Als Erster meldete sich Rainer M., der angesehene Leiter eines Literaturhauses, und wies mich auf den Fehler hin. Er blieb allerdings nicht lange allein, denn schon am nächsten Tag rief der Kollege einer Berliner Tageszeitung an, der das Buch ebenfalls zugeschickt bekommen hatte. Dann kamen die ersten Leser, die sich den gerade erschienenen Band gekauft und beim Lesen auf den Lapsus gestoßen waren. In der Pause einer Lesung, bei der ich „Wie ich einmal vergaß, Schalke zu hassen“ offiziell vorstellte, sprachen mich eine Reihe Leute darauf an, ob ich denn nicht wüsste, dass?

Die meisten waren nachsichtig, einige spöttisch, aber Georg L. aus G. war richtig entsetzt. Er konnte es nicht fassen, dass ich das übersehen hatte. Ja, L. erwog in seiner E-Mail sogar, dass es sich dabei um eine „testweise eingestreute Fehlinformation“ handelte. Ansonsten verdächtigte er noch: Russenmafia, Verwechslung, Alkohol, irrige Erinnerung und Wunschdenken. Aber welcher dunkle Wunsch hätte mich da leiten können, als ich über Bernd Hölzenbein und das WM-Finale von 1974 schrieb, in dem der Frankfurter nach 26 Minuten weltberühmt wurde?

Nur eben nicht so: „1:1 stand es, als Bernd Hölzenbein über die linke Seite in den niederländischen Strafraum lief und über die Beine von Wim Jansen stürzte. Stolperte? Zur Schwalbe abhob? Oder doch: gefoult wurde? Schiedsrichter Jack Taylor, der Metzger aus Wolverhampton, sah es jedenfalls so, entschied auf Elfmeter, den Gerd Müller zum Siegtreffer verwandelte und Bernd Hölzenbein unvergessen machte.“

Selbstverständlich stand es in jenem Moment 0:1, und den Elfmeter verwandelte Paul Breitner, und Gerd Müller traf erst später zum 2:1. Das weiß ich noch, wenn ich nachts um fünf geweckt werde. Wie konnte ich nur so etwas Falsches aufschreiben? Was war da schief in meinem Kopf gelaufen? Also fragte ich den Leser Georg L., denn in seiner Anschrift war er als Psychologe ausgewiesen und würde vielleicht auch die Irrungen kognitiver Prozesse kennen.

Ich wurde nicht enttäuscht, denn er schrieb mir: „Unser Gedächtnis neigt dazu, ein „stimmiges Ganzes“ zu erzeugen. Wenn man sich einmal mit Zeugenaussagen beschäftigt, kann man sehen, dass oft – vielleicht unter Stress – tatsächliche Fakten mit anderen Ereignissen kombiniert, ergänzt, erfunden zu einem irgendwie stimmigen Ganzen zusammengefügt werden. In diesem Fall stimmen ja auch „im Gesamtfalschen“ einige Dinge: Gerd Müller hat das 2:1 geschossen. Hölzenbein hatte seine Verdienste um den WM-Sieg. Es gab Jack Taylor und Wim Jansen. Hölzenbein drang von halblinks in den Strafraum ein etc. So ergab sich einfach für den Moment beim Schreiben des Beitrags eine logische Ganzheit: Deutschland hatte gewonnen, Gerd Müller das Siegtor geschossen, Deutschland war Weltmeister. Fertig! Und gut war!

Das leuchtete mir ein, und das Stress in diesem Fall keine große Rolle spielte, befürchte ich, dass da noch eine Menge „stimmiges Ganzes“ und „Gesamtfalsches“ in meinem Kopf abgelagert ist. So taufte ich den russischen Stürmer Iwan Saenko vom 1.FC Nürnberg in Oleg um, was ja auch ziemlich russisch ist – zum Glück wurde das vorher entdeckt.

Besonders tückisch ist der Fußball mit seiner Springflut von Ergebnissen und anderen Zahlen, die jedes Wochenende über uns zusammenbricht. Da kann man sich auch ganz schön viel Kram stimmig denken. Aber ist es nicht vielleicht wichtiger, dass man ein stimmiges Ganzes erzeugen kann, selbst wenn die Details nicht stimmen? Ist es für die Geschichte wirklich wichtig, dass Anderson am 19. Mai 2001 in Hamburg in der Nachspielzeit nicht den Siegtreffer für die Bayern, sondern den Ausgleich erzielte, wo es doch nur darum geht, dass Bayern in diesem Moment dem FC Schalke 04 noch den Titel entriss?

Vielleicht ist es nicht entscheidend, aber auch diese kleine, sagen wir: Unebenheit wird bei einer Nachauflage korrigiert. Denn allzu weit ins Gesamtfalsche sollte Journalismus nicht abdriften. Jedenfalls so lange nicht, bis die Bundesligatabelle offiziell als Literatur behandelt wird.

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