in fußballland: CHRISTOPH BIERMANN über Félix Miallo Venerando
Auspuff statt Reifen
Sogar der Kommentator des offiziellen Films über die Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko, eigentlich zu strenger Neutralität verpflichtet, wird etwas deutlicher, als er über den Ausgleich der Italiener im Finale gegen Brasilien spricht. Torhüter Félix sucht die Schuld bei den anderen, sagt er, wo er doch selbst völlig falsch postiert gewesen ist. Dabei schaut man einem zwischen buschigen Koteletten hervorlamentierenden Félix zu, der so wirkt, als hätte er gerade an einem Auto den Auspuff gewechselt, wo es doch die Reifen sein sollten, weil ihm das niemand richtig gesagt hat. Was zudem eine treffliche Überleitung zu der Tatsache ist, dass der Mann, der bei Abpfiff trotzdem Weltmeister war, später Gebrauchtwagenhändler wurde und schließlich mit seinem Schwiegersohn eine Reparaturwerkstatt in São Paulo eröffnete, die „Liar“ hieß, was nur auf Englisch „Lügner“ bedeutet.
Ein Lügner ist der schlechteste Keeper nicht, der je die Trophäe des Weltmeisters hochhalten durfte, sondern ein Beispiel für das seltsame Leben der Torhüter oder schlicht eine komische Figur, die aber als Letzter am besten lachte. Wobei es selbstverständlich eine zufällige Pointe ist, dass sein Vater bei einer Firma arbeitete, die Mussolini hieß und Seidenstrümpfe herstellte. Seine Eltern taten ansonsten gut daran, ihm mit der Namensgebung Glück zu versprechen, denn das hatte Félix Miallo Venerando auf seinem Lebensweg zweifellos. Und beim Höhepunkt seiner Fußballkarriere besonders.
Vor der Endrunde in Mexiko war er vom überspannten Nationalcoach Jorge Saldanha bereits aussortiert worden. Doch des Trainers plötzliche Besessenheit, den europäischen Mannschaften mit vor allem kräftigen Spielern entgegenzutreten, erwies sich als Flop. Als Saldanha auch noch überlegte, Pelé zu streichen, hatte er das Ende seiner Karriere als Brasiliens Trainer beschlossen. Mario Zagalo kam, vergaß alle Änderungen, und Félix stand wieder im Tor des Teams, dessen Besetzungsliste allein noch heute den Klang einer Ode an den Fußball hat: Pelé, Tostão, Jairzinho, Rivelino, Gérson, Everaldo und Carlos Alberto. Von den vier Teams, die Weltmeistertitel für Brasilien gewannen, wird dieses in seiner Heimat am meisten geliebt, weil es Siegen mit Schönheit verband. „Die Weltmeisterschaft 1970 war ein wunderbarer Triumph des Positiven über das Negative, der Kreativität über die Destruktion“, schreibt Brian Glanville in seinem Klassiker „History of the World Cup“.
Daran konnte auch Félix nichts ändern. 19 Tore schossen die Brasilianer in Mexiko auf dem Weg zum Titel, wer kräht da nach den sieben Gegentoren? Eines davon, im ersten Spiel gegen die Tschecheslowakei, war sogar unhaltbar – der Rest nicht. Im letzten Gruppenspiel gegen Rumänien ließ Félix beim ersten Treffer den Ball unter dem Körper durchrutschen, beim zweiten Tor kam er zu spät von der Linie. Im Viertelfinale gegen Peru kassierte er den ersten Treffer fast von der Torlinie ins kurze Eck, den zweiten ließ er, ganz Bahnschranke, wieder unterm Körper durchrutschen. Im Halbfinale gegen Uruguay sprang deren Angreifer Cubilla der Ball ans Schienbein und hüpfte fast von der Torauslinie gemächlich an Félix vorbei, und im Finale schließlich lief er zu weit hinaus.
Entschuldigend muss man sagen, dass die Keeper damals überhaupt häufiger Bälle durchließen, die Oliver Kahn heute über ein vorgezogenes Karriereende nachdenken lassen würden. Außerdem hatte Félix – von seinem ansteckend heiteren Gemüt abgesehen – sogar einen großen Moment. Im Finale verhinderte er nach sieben Minuten mit einer großen Parade die frühe Führung Italiens. Und im torlosen Gruppenspiel gegen den amtierenden Weltmeister England war er bereits zum Helden geworden, nachdem er mit Angreifer Francis Lee zusammenprallte. Dessen Tritt an den Kopf machte Félix zunächst bewusstlos, durch die restliche erste Halbzeit taumelte er nur noch. Wiederbelebt hat ihn, darauf hat der vergnügte Fußballheld später stets bestanden, seine übliche Erfrischung zur Pause. Am Ausgang zu den Kabinen wartete ein Betreuer schon mit der bereits glimmenden Zigarette auf Félix. Dann wurde gequalmt, und alles war gut.
Und wer guckt sich heute schon alte Videos an.
FotohinweisChristoph Biermann, 40, liebt Fußball und schreibt darüber
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