in fußballland: CHRISTOPH BIERMANN über Helden des Jahres
Lasst Esel fliegen
Das Schönste an dem Märchen vom Team mit dem fliegenden Esel im Vereinsemblem ist, dass es auch noch ganz toll Fußball spielt. Es ist nicht nur niedlich mit seinem rumpeligen Trainingsplatz eines Amateurklubs, seinem kauzigen Trainer und einem Sponsor, der Weihnachtskuchen backt. Der AC Chievo spielt in der Erbfolge der einstigen großen Teams von AC Mailand oder Dynamo Kiew atemberaubend direkt. Die Platzbesetzung ist perfekt, die Viererkette in der Abwehr so spektakulär wie die Abseitsfalle radikal. Das Team aus dem Vorort von Verona ist seit Jahren eingespielt, gerade aufgestiegen und schon verdienter Spitzenreiter der Serie A. Der Spaß ist riesig und kostet fast nichts. Chievo hat einen Etat, mit dem die Geldmonster der Liga nicht einmal Reservisten bezahlen könnten. Italien liegt ihnen zu Füßen, und wir sollten es auch.
Dabei denken wir an den schönsten Tag des Jahres. Es war der 16. Mai, in Dortmund lieferten sich der FC Liverpool und CD Alavés ein unsterbliches Uefa-Cup-Finale, das uns glücklich machte. Das goldene Tor in der Verlängerung fiel zum 5:4 nach einem ekstatischen, Grenzen überschreitenden Spiel für die Engländer. Aber ihre Fans hatten verstanden, unterbrachen die Jubelstürme und erhoben sich, um tosend laut den Gegner zu feiern: „Alavés, Alavés!“, den kleinen Klub aus der baskischen Provinzhauptstadt Vitoria; den Außenseiter ohne Stars, auf dessen Trikots die Namen aller Mitglieder eingewoben waren; ausgestattet mit einem Etat, mit dem in Madrid oder Barcelona die B-Teams durchgefüttert werden.
Noch einmal durften wir das Geld vergessen, als sich am Ende des Frühlings der FC St. Pauli durchwühlte. Ohne Spielkunst aber voller Hingabe stiegen sie in die Bundesliga auf, obwohl sie doch zum Abschluss der Saison alle in der dritten Liga erwartet hätten. Kein Klub hatte weniger Geld zur Verfügung, selbst aus Ahlener oder Fürther Sicht war St. Pauli arm.
Das sind Geschichten, die eigentlich nicht mehr vorgesehen sind. Von Helden, die das wirklich sind. Denn längst herrscht die Logik des Industriefußballs, die von Investition und Ertrag. Wer das meiste Geld hat, bekommt die besten Spieler und gewinnt die meisten Partien, bekommt dadurch das meiste Fernsehgeld, die besten Spieler usw. Das ist so voraussehbar trostlos, dass jeder Haarriss im System gefeiert werden muss. Selbst wenn die Freude darüber nur einen Moment vorhält, denn ändern werden solche Ausnahmen die Regel nicht. So werden sie nach Chievo kommen und die besten Spieler einsacken – wie im Sommer schon in Alavés. Die Totkäufer des Spiels werden dabei wieder nicht verstehen, dass es dort nicht allein auf die einzelnen Kicker ankommt, sondern auf Teamwork und heiße Herzen. Aber zumindest werden sie zerstören, was nicht sein darf.
CD Alavés hat – in einem weiteren Wunder – den Verlust der besten Spieler gar noch einmal ausgleichen können und stand zuletzt erstmals in der Vereins-geschichte auf Platz eins der Primera División in Spanien. Aber daran brauchen wir sie nicht zu messen. In Zukunft zeigt sich der Erfolg einer Mannschaft sowieso nicht mehr an der Zahl der Siege oder dem erreichten Tabellenplatz, sondern an dem, was wir den DIE-Faktor nennen könnten: an der Differenz zwischen Investition und Ertrag. Wenn etwa der FC St. Pauli jenseits glücklicher Frühlingsgefühle am Ende der Bundesligatabelle steht, entspricht das genau dem geringsten Etat einer Spielklasse, wo selbst der 1. FC Köln doppelt so viel Geld aufbringt. Der DIE-Faktor würde trotzdem eine solide Null anzeigen, während er beim FC Bayern, der am meisten ausgegeben hat, auf dem fünften Platz mit folglich einer minus Vier negativ ausfällt.
Diese Tabelle sollte eigentlich jeden Montag in den Zeitungen neben der üblichen abgedruckt sein. Denn sie zeigt uns, wie die Sache wirklich steht. Aber auch so werden wir hoffen, dass die Esel weiter fliegen.
Fotohinweis:Christoph Biermann, 40, liebt Fußball und schreibt darüber
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