ich schulde einem lokführer eine geburt:
von WIGLAF DROSTE
Eine dringende Herzensangelegenheit brachte mich in die etwas missliche Lage, in Bielefeld die Regionalbahn nach Altenbeken nehmen zu müssen, denn dort, in Altenbeken, wartete der Anschlusszug, der mich zu meinem Ziel bringen sollte. Die Regionalbahn indes verließ Bielefeld mit so großer Verspätung, dass der weiter gehende Zug nicht würde erreicht werden können. Verzweiflung beschlich mich. Ich würde eine weitere Sehnsuchtschicht schieben müssen, und das in Altenbeken. Ausharren in Altenbeken, mit langem, gedehntem e: Altenbeeken. Klingt fast wie Altenhundem. Das es genauso wirklich gibt wie Altenbeken: Altenhundem. Da, wo die alten Hundem verfroren sind. Wenn nicht sogar die altem Hundem. Beziehungsweise eben die alten Beeken. An einem Samstagabend. Mir brach der Schweiß aus.
Ich hoffte auf den Schaffner, um ihn zu fragen, wie die Chancen stünden, die in Bielefeld vertrödelte Zeit aufzuholen. Niemand kam vorbei. So machte ich mich auf die Suche und wanderte zur Spitze des Zuges. Schon nach zwei Waggons stand ich vor der Kabine des Lokführers. Es handelte sich um einen seriös melierten Herrn von schätzungsweise Mitte 50, dessen ernste Züge von Freundlichkeit aufgehellt wurden, als er zu mir herübersah. Ob wir Altenbeken vielleicht doch pünktlich erreichen könnten, fragte ich; sehr dringend müsse ich dort den Anschluss-Interregio erwischen. Er schüttelte den Kopf. Nein, leider nicht, bedauerte er. Sein Bescheid traf mich voll. Und plötzlich, ohne die geringste vorhergehende Überlegung, hörte ich meine Stimme sagen: „Es ist wirklich wichtig. Meine Frau liegt in den Wehen!“
Ich sagte das mit sonorer Stimme, dem Thema angemessen leicht gepresst. Es klang unglaublich echt, ich war selber beeindruckt. Dabei bin ich weder verheiratet noch war ein Kind unterwegs. Aber für den Lokführer lagen die Dinge anders. Er sah mich mit großem Ernst an und schwieg. Wir waren zwei Männer, schicksalhaft verbunden, er konnte mein Los lindern, wenn er tat, was zu tun war, und er tat es ohne Zögern. Er nickte, noch immer schweigend, und ich bin sicher, dass er vor seinem geistigen Auge sah, was auch ich sah: eine Frau zwischen Laken, das Gesicht schweißbedeckt, eine Hebamme, einen Arzt, der eimerweise schwarzen Kaffee trank, um nüchtern zu werden, und eine Stimme rief: „Bringt heißes Wasser und saubere Tücher!“
„Ich kümmere mich“, sagte der Lokführer in großer, schöner Einfachheit. Ich dankte ihm so ernsthaft, dass ich die geflunkerten Wehen beinahe selbst zu spüren glaubte. In Altenbeken wartete tatsächlich der Interregio. Im Bistro trank ich ein Glas Cabernet Sauvignon, der ausnahmsweise köstlich schmeckte – Glück bestach meinen Gaumen, und Dankbarkeit: über die eigene geradezu katholische Lügefähigkeit, und mehr noch über die freundliche, selbstverständliche Entschlossenheit eines westfälischen Regionalbahnlokführers – dem ich nun, da gibt es kein Vertun, eine Geburt schuldig bin, mit allen Schikanen, mit heißem Wasser und sauberen Tüchern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen