piwik no script img

himmelreich, berliner zimmer etc.Zigaretten rauchen und aus dem Fenster schauen: Wie Frau Kosanke in ihrer Neuköllner Wohnung Weihnachten feiert

„Das vergeht über die Jahre“

Heute besuche ich eine alte Frau. Elisabeth Kosanke ist 90, und lebt seit 65 Jahren in derselben Wohnung. Neukölln, Seitenflügel, erster Stock. Es ist 12 Uhr mittags. Normalerweise liegt sie um diese Zeit im Bett. Weil Sitzen anstrengend ist und Frau Kosanke nachts nicht schlafen kann. Für den Besuch hat sie eine beigefarbene Strickjacke, graue Leggins und eine Perlenkette angezogen. Die weißen Haare stehen buschig vom Kopf weg.

In der Wohnung riecht es, wie es bei alten Leuten häufig riecht: nach Tempotaschentüchern und Menü-Bringdienst. Und es riecht bei Elisabeth Kosanke nach Nikotin, denn sie raucht täglich eine Schachtel Zigaretten. Durch die Gardinen des Wohnzimmerfensters kommt wenig Helligkeit herein. Frau Kosanke macht das Licht an. Auf dem niedrigen Couchtisch steht eine Schüssel mit Plastikobst.

Für eine Fabrikarbeiterin im DeTeWe-Kabelwerk, einen arbeitslosen Radrennfahrer und die zwei Kinder konnte im November 1935 so „ein Himmelreich“ aussehen: ein Berliner Zimmer, eine schmale Küche und eine enge Kammer. Elisabeth Kosanke zahlte damals fünf Mark an und unterschrieb froh den Mietvertrag.

Damals sei das hier alles noch eine gute, schöne Gegend gewesen, erzählt sie später. Man sei ins „Resi“ gegangen oder auch in den „Paradiesgarten“, um Foxtrott zu tanzen. An Feiertagen hatten die Nachbarn Kuchen gebacken, und „die eigene Bude war auch immer voll“. Das dritte Kind wurde in der Wohnung geboren. Ihr Mann, der Radrennfahrer, blieb im Krieg.

Heute wohnen hier nur noch junge Männer im Haus, sagt Frau Kosanke. Ganz oben eine Türkenfamilie. Kaum einer der 30 Parteien hängt Vorhänge an die Fenster, man sieht die Mieter nackt rumlaufen, beklagt sie sich, und außerdem sind nirgends die Scheiben geputzt. Nur drei Leute im Haus gingen überhaupt zur Arbeit.

Das weiß sie genau. Denn wenn Frau Kosanke nicht schlafen kann, steht sie am Küchenfenster und raucht. Da kann sie sehen, wer früh morgens aufsteht und das Haus verlässt. Ansonsten scheint der Alltag vor dem Fenster für Abwechslung geschlossen. Die gegenüberliegenden Hauserwände sind schmutzig-braun, die beiden Bäume im Hinterhof kahl.

Dafür sorgt Elisabeth Kosanke im Inneren der Wohnung für Veränderung. In zwei Tagen wird eine neue Polstergarnitur geliefert. Einen anderen Wohnzimmerschrank will sie noch kaufen. „Damit das Geld wieder alle ist“, sagt sie und denkt dabei an die Verwandtschaft.

Frau Kosanke hat sich für das Alleinsein entschieden. Ihre Söhne sind bereits im Rentenalter, die Enkelin hat sie rausgeschmissen, der Schwiegertochter kann man nichts recht machen. Über einen Nachbarn, der ab und zu nach ihr sieht, sagt Frau Kosanke: „Er lebt gerne im Dreck.“ Höchstens einmal pro Woche geht sie vor die Tür.

Auch an Weihnachten wird Elisabeth Kosanke im Bett bleiben und Fernsehen gucken. „Früher habe ich geweint. Aber das vergeht über die Jahre“, sagt sie. Beim Abschied steht Frau Kosanke rauchend am Küchenfenster und winkt über den Hof.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen