heute in hamburg: „Es gab große Widerstände“
Nicole Mattern, 44, ist Vorsitzende der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm und organisiert die Gedenkfeier.
Interview Alexander Diehl
taz: Frau Mattern, an wen erinnern Sie heute Nachmittag?
Nicole Mattern: Die Gedenkfeier ist für die Kinder vom Bullenhuser Damm: 20 Kinder, die in der Nacht zum 21. April 1945 von der SS ermordet wurden. Es waren alles jüdische Kinder, die nicht aus Deutschland kamen, sondern aus Polen, Frankreich, Italien, Holland und der Slowakei. Sie wurden in der Schule am Bullenhuser Damm ermordet – erhängt, um es ganz konkret zu sagen. Die Schule stand damals leer und war ein Außenlager des KZ Neuengamme.
Warum kam es zu diesem 20-fachen Mord?
Die Kinder mussten sterben, weil an ihnen medizinische Versuche durchgeführt worden waren. Das sollte vertuscht werden, kurz vor Ende des Krieges.
Was weiß man über die Opfer?
Wir kennen heute von 18 die Biografien und haben Kontakt zu den Angehörigen. Das fußt alles auf der Initiative des Stern-Journalisten Günther Schwarberg. Der hat das Thema vor fast 40 Jahren recherchiert und Fotos der Kinder gefunden, ihre Namen und schließlich auch Angehörige. In den letzten zehn Jahren haben wir Kontakt zu Angehörigen von weiteren zwei Kindern bekommen, zuletzt sogar von einem Jungen, dessen Vorname wir lange nicht wussten: Der war immer abgekürzt worden, „W. Junglieb“, nun wissen wir: Er hieß Walter Junglieb. Dessen Schwester kam vor zwei Jahren erstmals nach Hamburg. Und sie wird auch heute bei der Feier dabei sein.
Ich könnte mir vorstellen, dass Sie bei dieser Arbeit auch gegen Widerstände anzukämpfen hatten – besonders am Anfang.
Ja, es gab große Widerstände. Auch die Stadt hat sich sehr schwer getan, das anzuerkennen. Nur durch Günther Schwarberg, der dann mit Angehörigen zusammen die Vereinigung gegründet hat, gibt es überhaupt die Gedenkfeier und auch eine Gedenkstätte. Die ist 20 Jahre lang von der Vereinigung privat betrieben worden. Erst seit 1999 liegt sie in der Hand der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Was wissen Sie über die „medizinischen Versuche“ an den Kindern?
Der SS-Arzt, der sie durchgeführt hat, hat nach dem Krieg weiter praktiziert. Der ist erst 1964 entdeckt worden. Er hatte in seinem Garten eine Kiste vergraben, da waren alle Unterlagen zu den Experimenten drin. Zum Glück, muss man sagen, denn darunter waren die Fotos, anhand derer man die Kinder identifizieren konnte. Der Arzt hat später vor Gericht ausgesagt, dass er nicht gegen das Gesetz verstoßen habe, aus seiner Sicht: Zu dem Zeitpunkt seien Kinder das gleiche gewesen wie Versuchstiere.
Gedenkfeier für die Kinder vom Bullenhuser Damm: 16 Uhr, Turnhalle des Schulgebäudes Bullenhuser Damm 92–94
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