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heute in bremen„Es ist gerade nicht mehr alles möglich“

Foto: privat

Joscha Schmierer, 75, war 1973 Mitbegründer des Kommunistischen Bundes Westdeutschland und später im Planungsstab des Auswärtigen Amtes tätig.

Interview Teresa Wolny

taz: Herr Schmierer, zieht sich von der 68er-Bewegung eine Spur zur Krise der Demokratie von heute?

Joscha Schmierer: Das glaube ich nicht, sondern sehe es eher umgekehrt. Was sich heute gegen die Demokratie wendet, ist nach eigener Aussage der Protagonisten auch eine Wende gegen 68. Diese Protagonisten wie die AfD sind eine Reaktion gegen 68, keine Folge. Das Besondere an 68 war die internationale Konstellation, dass sich die emanzipatorischen Bewegungen rund um die Welt aufeinander bezogen haben und nicht nur nebeneinander herliefen. Es schien alles möglich zu sein, auch eine Revolution. Heute löst sich das Verhältnis unter den Mächten auf, gesellschaftliche Bewegungen werden unterdrückt, es ist gerade nicht mehr alles möglich.

Welche Rolle spielen die deutsch-französischen Beziehungen dabei?

Angefangen hat es mit Protesten in beiden Ländern gegen den Algerienkrieg zu Beginn der Sechziger. 1968 war weder für die Bundesrepublik noch für Frankreich spezifisch, sondern bezeichnete eine globale Situation. Das deutsch-französische Verhältnis gab es nicht nur zwischen Staaten, sondern auch zwischen Gesellschaften, wo Teile in ähnliche Richtungen gingen. Am Vietnamkongress in Berlin 1968 nahmen viele Franzosen teil und umgekehrt waren damals viele Deutsche in Paris. In diesem Zusammenhang spielt Daniel Cohn-Bendit bis heute eine große Rolle in der gegenseitigen Verdolmetschung der gesellschaftlichen Entwicklung.

Stehen wir vielleicht auch vor einem neuen Wertewandel wie 68?

Vortrag und Diskussion „Revolution? 50 Jahre Mai 68 mit Joscha Schmierer und Christophe Premat“: 19 Uhr, Institut Français, Contrescarpe 19

Da ist es ziemlich wichtig, wie die Entwicklung in den USA sein wird, wie sich die Jugendlichen gegen die Waffengesetze wehren und selbstständig zu Wort melden werden. Diese Entwicklung wird – so wie damals der Widerstand gegen den Vietnamkrieg – eine wichtige Rolle spielen. Ermutigende Entwicklungen gibt es an vielen Stellen, aber das ist nicht zu vergleichen mit dem Zusammenwirken der internationalen Situation von 1968. Dabei handelte es sich um eine internationalistische Globalisierung.

Die 68er waren der Höhepunkt einer anti-autoritären Bewegung. Gibt es heute eine Sehnsucht nach autoritären Regimen?

In Teilen der Gesellschaft auf jeden Fall. Diese autoritäre Stimmung wird jedoch vielmehr gemacht, als dass sie einfach da ist.

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