herzensort: Ohne Fenster Neues sehen
Die Augen sind meine Achillesferse. Deshalb verbringe ich viele Stunden im Wartezimmer der Augenärztin – einem fensterlosen Raum. Ausgestattet mit Proviant, Lektüre, Strickzeug schlage ich dort beim ersten Mal auf.
All das hätte ich aber zu Hause lassen können. Denn im Wartezimmer der Ärztin stehen Bücher. Kunstbände etwa über Yoko Ono oder Botticelli, Klassiker wie „Schloß Gripsholm“, Sachbücher über die Zerwürfnisse in der Gesellschaft, DIY-Kompendien, Lexika, auch das über die Gebärdensprache. Einige Bücher lösen Déjà-vus aus, wie „Fragmente einer Sprache der Liebe“ von Roland Barthes. Ich hatte es vor bald 40 Jahren oder so als Raubdruck gekauft und eine Zeitlang mein Herzensbuch genannt.
Ein Kunstband hat es mir in dieser Wartezimmerbibliothek besonders angetan. Es ist über den Expressionisten Wilhelm Ohm, mir völlig unbekannt. Wie er die Farbe aufs Papier setzt, wie er mit schnellen Strichen das Wesentliche einfängt, alle Zwänge abwerfend, finde ich atemberaubend. Jedes Mal, wenn ich zur Ärztin gehe, freue ich mich darauf, durch das Buch zu blättern. Jedes Mal sehe ich Neues. Waltraud Schwab
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