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harald fricke über ShoppingVom Bioladen zur Cappuccinobar

Auch das alternative Milieu wechselt seine Vorlieben mit der Mode – sehr zum Unmut des einzelnen Händlers

Auf der linken Straßenseite steht der Laden, in dem eine Filiale der Wohlthat’schen Buchhandlung war, seit einem Jahr leer. Jetzt hängt auch in der Buchhandlung Ringelnatz gegenüber ein großer Streifen Packpapier mit der Aufschrift „Räumungsverkauf“. Die Frau mit den kurzen grauen Haaren hört auf, weil sich das Geschäft nach der Mieterhöhung nicht mehr trägt. Günstigere Räume wird sie sich nicht wieder suchen, sagt sie ein wenig enttäuscht zu einer Kundin, die gerade in einem Haufen heruntergesetzter Reisebücher stöbert, „nach so vielen Jahren, nein, das ist vorbei. Da überlegt man sich schon genau, ob man das noch mal macht. Ich glaube, jetzt ist es Zeit für etwas ganz anderes.“

Buchhändler sind nicht die einzigen Geschäfte, die in diesem Teil von Berlin-Kreuzberg schließen. Vor einigen Wochen hat hier einer der ältesten Bioläden Berlins dichtgemacht; zwei Ecken weiter ist ein Blumengeschäft eingegangen, das von einem schwulen Pärchen mittleren Alters geführt wurde. Dazu kommen noch Desperados wie der afrikanische Stehimbiss, der sich keine zwei Jahre in einem unscheinbaren Keller gehalten hat; und auch in der Ladenwohnung, in der ein Fachgeschäft für handgefertigte Gitarren war, sind die Rollos seit einer Ewigkeit vor den Fenstern heruntergelassen. Nicht dass der Bezirk am Ende wäre, im Gegenteil: Fast jede Woche macht irgendein neues Sushirestaurant, eine Cappuccinobar, ein Tätowiershop oder eine Boutique für Sportfashion auf; beim türkischen Obsthändler stehen die Leute Schlange für Spezialitäten, sogar der versteckte Laden mit S/M-Utensilien hat erstaunlich gut zu tun. Offenbar hängt das veränderte Angebot mit der Nachfrage eines gewandelten Milieus zusammen – selbstgestrickte Veganer, die sich Yuccapalmen kaufen, um sie vor ihr Bücherregal mit der Max-Frisch-Gesamtausgabe zu stellen, sind out. Gepiercte Extremsportfans, die in einem Straßencafé an ihrem „Latte Macchiato“ nippen, sind in.

Eine Bereicherung ergibt sich aus diesem Wechsel im Alltag nicht. Schließlich bestehen die verschiedenen Produktwelten nicht nebeneinander fort, sondern ein Lifestyle ersetzt auf dem Markt den anderen – das Spektrum ändert sich, sein visueller Ausstoß an Zeichen bleibt mehr oder weniger gleich groß. Zugleich erlischt die eine Lebensweise nie ganz unter der Dominanz von anderen. Denn der überzeugte Müslifreak stirbt ja nicht aus, weil alle Welt in pappigen Reis verpackte Krevetten schlemmt oder Energydrinks nuckelt – schlimmstenfalls bestellt er seine Körner von nun an übers Internet. Schwierigkeiten hat eher der einzelne Händler, der sich nicht ohne Weiteres auf jeden Trend einrichten kann. Dabei ist im Gegensatz zu den Gemischtwarenhandlungen von vor hundert Jahren an eine Zusammenlegung der unterschiedlichen Sortimente angesichts der so komplexen wie exklusiven Kundenprofile nicht zu denken: Welcher gestandene Naturfaserträger würde seine Leinenhosen zwischen lauter Lackschürzen und Lederslips kaufen wollen? Umgekehrt dürfte sich auch ein Funsportler nicht sonderlich wohl fühlen, wenn er auf der Suche nach einem neuen Snowboard erst über turmhoch gestapeltes Holzspielzeug steigen müsste.

Das Problem ist nicht die klare Zuschreibung der Lebensentwürfe, sondern die Unüberbrückbarkeit der einkaufstechnischen Nischen, die sich aus ihnen ergeben. Darin spiegelt sich wiederum ein Denkfehler im System jener Alternativkultur, deren Wille zur Individualisierung in Kreuzberg und auch andernorts zu einem Boom an Läden für Spezialinteressen jenseits des Mainstreams geführt hat – nie wieder Karstadt! Nun kann sie die permanente und oft komplette Neuorientierung ihrer Klientel kaum noch bewältigen: Es gibt heute schlicht mehr als die eine Alternative zum konsumtiven Status quo, von dem ohnehin niemand weiß, wie er eigentlich einmal ausgesehen haben könnte. Gleichwohl sind die Bedürfnisse der Käufer zwar willfähriger und schwankender geworden, aber in ihren Anforderungen jeweils absolut. Wer für seine Playstation ein neues Spiel braucht, wird sich nicht mit Stefan Zweigs „Schachnovelle“ vertrösten lassen; übermorgen liegt das volle Augenmerk dann vielleicht auf Zierfischen statt Computern. Insofern kann sich der Kreuzberger oder wahlweise jeder andere Einzelhandel der Zukunft keine Bestände leisten, wenn er auf Dauer Bestand haben soll – nicht was verkauft wird, zählt; dass es überhaupt geschieht, ist von Belang. Aus dem alternativen Geschäftsdenken ist ein Kampf um Kundschaft geworden, vor deren stets neuen Optionen der Händler zittern muss. Am besten informiert er sich deshalb rechtzeitig darüber, wie man ein Aquarium anlegt. Vorige Woche zumindest gab es den entsprechenden Ratgeber im Räumungsverkauf der Buchhandlung Ringelnatz noch im Sonderangebot.

Fragen zum Shopping? kolumne@taz.de

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