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hamburger szeneAls wäre die Not der Bettler ansteckend

So schlimm bin ich doch gar nicht“, sagt er leise und senkt den Blick. Kurz verharrt er, sackt in sich zusammen, rafft sich auf und versucht es weiter, fragt die Leute in der Hamburger S-Bahn gen Bergedorf nach Geld, wird gemustert, abgewiesen, meistens ignoriert. Ich habe das selber oft gemacht, habe vielleicht kurz hochgesehen und den Kopf geschüttelt, wenn da jemand stand, der um Hilfe bat. Manchmal aber hat mein eher dickes Großstadtfell Löcher, dann funktioniert das nicht, dieses Ausblenden von Leuten, die vor mir stehen und etwas brauchen. Neulich war so ein Tag.

Ich hatte gerade ein Buch geschenkt bekommen. Mit dem setze ich mich in die S-Bahn, will raus aus der Stadt und im Wald ein wenig wandern und lesen. Schien mir passend, denn es geht in der wahren Geschichte um ein Ehepaar, etwa Mitte 50. Die beiden verlieren alles, weil sie eine falsche Entscheidung getroffen haben. Stehen auf einmal mittellos und wohnungslos da und begeben sich auf eine Wanderung. Fragt sie unterwegs jemand, warum sie in ihrem Alter so viel Zeit haben und dann auch noch wild campen statt bequem im Hotel zu schlafen, sagen sie: „Weil wir alles verloren haben und obdachlos sind.“ Und erleben: Abwehr. Als wäre Not ansteckend, nehmen die Gesprächspartner sofort Reißaus.

Ich konnte dieses Buch nicht in der S-Bahn lesen und alles um mich herum ausblenden. Der „So schlimm bin ich doch ich gar nicht“-Mann bekommt mein letztes Kleingeld, es sind nur noch acht Cent. Es ist mir Unangenehm, ihm acht Cent zu geben, murmele eine Art von Entschuldigung, er zuckt mit den Schultern und zieht weiter. Vor ihm haben schon drei andere Männer um Geld gebeten und welches bekommen. Nach ihm kommt ein junger Typ zu mir, aus Rumänien sei er, Diabetes habe er, er brauche Insulin, er wedelt mit einer Insulinpumpe vor meiner Nase herum. Keine Ahnung, was davon stimmt. Aber geht es darum überhaupt?

Das Ehepaar in dem Buch geht irgendwann zu einer anderen Geschichte über und beantwortet die Frage nach dem Reisegrund mit: „Weil wir alles verkauft haben und uns jetzt Zeit nehmen.“ Nun erfahren sie: Bewunderung. So viel Mut hätte man ja auch gern, man wolle alles wissen. So groß die Sorge davor ist, sich mit dem Elend der anderen zu infizieren, so groß ist offenbar auch der Wunsch, etwas von dem Mut abzugreifen.

Er rafft sich auf und versucht es weiter, fragt die Leute in der S-Bahn nach Geld, wird gemustert, abgewiesen

Ich gebe dem Insulin-Mann einen Zehn-Euro-Schein, was anderes habe ich nicht mehr. Eine alberne Sekunde denke ich, dass zehn Euro doch viel zu viel sind und ob er vielleicht wechseln kann. Dann steige ich einfach aus, mehr Geld habe ich nicht dabei. Ilka Kreutzträger

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