geschichte: Einmal Russland und zurück
Als bäuerliche Siedler waren sie einst nach Russland gezogen. Zarin Katharina II. hatte 1763 dazu aufgerufen, russische Böden urbar zu machen, und dafür Religionsfreiheit, Selbstverwaltung in eigenen Kolonien und Steuervergünstigungen versprochen.
20.000 Siedler aus Hessen, der Pfalz und Baden-Württemberg machten sich nach Russland auf. Ein gutes Jahrhundert später lebten bereits 1,8 Millionen deutschsprachige Menschen im Zarenreich – die meisten an den Ufern der Wolga. Das Leben war entbehrungsreich, und von den Versprechungen blieb auch nicht viel, die wahre Katastrophe allerdings brach viele Jahrzehnte später, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, über die deutschen Siedler herein.
Im Juli 1941 beauftragte Stalin Außenminister und Geheimdienstchef damit, eine Lösung für folgendes Problem zu finden: Deutsche Truppen hatten im Monat zuvor die Sowjetunion angegriffen, jetzt hatte man die Deutschen in den Siedlungen an der Wolga per Erlass allesamt zu Kollaborateuren gestempelt.
Molotow und Berija empfahlen, die gesamte Bevölkerungsgruppe zu deportieren. Im September begann die Aktion, eine halbe Million Menschen wurde zwangsweise nach Sibirien, in den Ural, nach Kasachstan und Zentralasien verfrachtet. 18 Tage dauerte die Operation, die den Schlussstrich unter eine Siedlungsgeschichte von fast 180 Jahren setzte.
Immer mehr Russlanddeutsche wurden in den Folgejahren in Sondersiedlungen interniert, zum Kriegsende nahezu 1,2 Millionen. 400.000 Menschen leisteten Zwangsarbeit – die Verhungerten und zu Tode Geschundenen wurden nie gezählt.
Erst 1964 hob der Oberste Sowjet die stalinschen Dekrete auf und nahm die Vorwürfe gegen die russlanddeutsche Bevölkerungsgruppe zurück. Eine Rückkehr in die früheren Siedlungsgebiete blieb ihr allerdings weiterhin verwehrt. Entschädigung gab es nicht, Rehabilitation ebenso wenig.
Das Ende der Sowjetunion schließlich hat eine andere Sicht auf die Deportationspolitik der Dreißiger- und Vierzigerjahre mit sich gebracht. Im April 1991 räumte die russische Regierung im „Gesetz zur Rehabilitation unterdrückter Völker“ ein, dass die damals betriebenen Umsiedlungen und Zwangsregime Völkermord gleichkamen.
Das Eingeständnis kam spät. Das Trauma der Terrorjahre hatte eine ganze Bevölkerungsgruppe erfasst und sich auf die Nachfahren übertragen. Mit Perestroika und Glasnost eröffnete sich für viele Russlanddeutsche daher keine neue Perspektive im eigenen Land, sondern die Möglichkeit, dieses Land bei nächster Gelegenheit endgültig Richung Westen zu verlassen.
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