gaza-tagebuch: Wir müssen aus der „Pufferzone“ fliehen
Tage voller Tod. Das Dröhnen der Granaten, Drohnen und Flugzeuge. Wir hätten nie gedacht, dass wir unser Haus nach dem Waffenstillstand wieder verlassen müssten. Als wir zurückkehrten und unser Haus nur teilweise beschädigt vorfanden, freuten wir uns; wenigstens bot es uns etwas Schutz vor der Kälte und der sengenden Hitze, der wir zuvor in den Zelten ausgesetzt waren.
Doch die Hoffnung, von nun an vor Kälte und Hitze geschützt zu sein, zerplatzte: Die Armee gab einen neuen „Evakuierungsbefehl“ für den Stadtteil Al-Shujaiya von Gaza-Stadt bekannt. Al-Shujaiya ist jetzt Teil des Gebiets, das Israel zur „militärische Pufferzone“ erklärt hat. Das Gebiet hat sich in den vergangenen Wochen in seiner Größe verdoppelt. Alle bekamen es mit der Angst zu tun und sammelten ein, was sie mit bloßen Händen tragen konnten. Der Transport war fast unmöglich – wegen des Treibstoffmangels, der Dieselknappheit und der fehlenden Gasflaschen fuhren keine Fahrzeuge.
Ich schickte meinen Bruder los, um zwei Liter Benzin für unser Auto zu kaufen, damit wir weiterfahren konnten. Fünfzehn Minuten später kam mein Bruder Amir mit den Gasflaschen zurück; er sagte mir, er habe fünfundfünfzig Dollar pro Liter bezahlt.
Eine Zeitlang standen wir auf der Straße und wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Ich hatte mein Handy bei unserem Nachbarn aufgeladen und er war auf den Markt gegangen, also wartete ich auf ihn, nachdem ich den Räumungsbefehl gehört hatte.
Plötzlich stand die Straße Kopf: Eine Rakete schlug in der Nähe unseres Hauses ein. Zuerst dachten wir, unser Haus sei wieder getroffen worden, denn wir konnten durch den aufgewirbelten Staub nichts sehen. Ich versuchte, durch den Staub zu unserem Haus zu kommen, weil meine Schwestern allein dort waren, aber es gelang mir nicht – und so wartete ich in der Nähe. Kurze Zeit später betraten wir wieder das Haus und fanden meine Schwestern körperlich unversehrt vor, doch der Schrecken stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Shimaa sagte zitternd: „Ich habe die Flammen der Rakete gesehen, als sie das Nachbarhaus traf. Wir haben die Lebensmittel und Kleidung, die wir tragen können, in Kisten gepackt.“
Ich trat wieder auf die Straße. Der Sohn unseres Nachbarn drückte mir seinen Neffen in die Hand. Dessen kleiner Körper war über und über mit Staub bedeckt. „Rette ihn, Esam“, sagte sein Onkel. Ich stürzte auf die Straße und begann zu laufen; ich musste eine halbe Stunde zu Fuß zurücklegen, um das Krankenhaus zu erreichen. Es gab keine Krankenwagen oder Autos, um die Verwundeten zu transportieren. Meine Gedanken schweiften ab – nicht, weil ich den Weg zum Krankenhaus nicht kannte, sondern weil meine Familie noch im Haus war und wir das Haus sofort verlassen mussten, aber das Kind in meinen Armen blutete. Ich fühlte mich gefangen zwischen dem drohenden Tod meiner Familie – denn die Armee würde nicht lange nach dem „Evakuierungsbefehl“ warten – und dem blutenden Kind. Es war, als würde ich in die Dunkelheit laufen, unausgeglichen und taumelnd. Unterwegs sah mich ein Mann aus der Gasse, nahm das Kind und trug es ins Krankenhaus. Ich kehrte nach Hause zurück, um unsere Vorbereitungen zu beenden.
Wir luden all unsere Habseligkeiten auf den Dachgepäckträger und in den Kofferraum, ließen den Motor an und fuhren los. Wir mussten erst einmal Al-Shujaiya verlassen und dann entscheiden, wohin wir fahren wollten. Als wir das Viertel hinter uns gelassen hatten, rief meine Tante an: „Kommt zu uns.“ Sie wohnt in Tal al-Hawa, ebenfalls ein Stadtteil von Gaza-Stadt. Ich denke an nichts anderes, als darüber, wie ich mit meiner Familie dieses Inferno überleben kann. Wir müssen Gaza verlassen, auf jeden Fall. Denn hier leben wir jeden Augenblick mit dem Tod.
Dieser Artikel wurde möglich durch finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e. V. taz.de/auslandsrecherche
Esam Hani Hajjaj (28) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen.
Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein. Es erscheint meist auf den Auslandsseiten der taz.
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