funkloch: Stilles Örtchen
Essen, trinken, schlafen, kuscheln – die Grundbedürfnisse der Menschen sind einfach. Umso schwerer ist es oft, sie zu erfüllen. Auf der IFA tritt ein weiteres Grundbedürfnis auf: ruhen. Vor allem am letzten Tag, an dem Dutzende IFA-Night-Party-Geschädigte durch die Messehallen irren, ein Fleckchen Stille für ihre verkaterten und verstrahlten Köpfe suchend. Sie haben die Rechnung allerdings ohne die geschäftstüchtigen Aussteller gemacht – kein Bildschirm verkündet freundlich: „Sie können ihr Gehirn jetzt ausschalten.“ Stattdessen der ganz normale Messe-Animationswahnsinn: hier eine Show, dort eine Tombola.
Das ist die Chance der Kirche, und Pastor Gerhard Niemann, ganz der Barmherzige, hat sie ergriffen. „Raum der Stille“ heißt der Ort, der irgendwo versteckt zwischen Würstchenbuden und Sommergarten Abhilfe verspricht. In dem Gottesraum ist es ruhig – wenn nicht gerade die Bässe einer Livemusikeinlage wummern oder ein Taxi vorbeirast. Deshalb unterstützt Niemann die Stille – mit Lautsprechern, aus denen Eso-Mucke ertönt, unterlegt mit Vogelgezwitscher oder Meeresrauschen. In mehreren Reihen stehen hier 23 Stühle und ein Ledersofa im Halbkreis. Auf jedem Stuhl liegt ein „Gebete für unterwegs“-Heftchen zum Mitnehmen – ohne Reklame kommt auch Gott nicht aus.
Der Raum der Stille ist aber keine Bibliothek. Die meisten Besucher ignorieren das Heft, schließen einfach die Augen. Wenn sie sie öffnen, um auf die Uhr zu gucken, fällt ihr Blick immer auf ein Jesusgemälde über dem Altar. Ruhe strahlt indes die Darstellung des halb nackten, blutbefleckten Gottessohns nicht wirklich aus.
Das stille Örtchen ist dennoch gut besucht – die Kirche hat eine Marktlücke entdeckt. Manche Besucher sind begeistert, sie verewigen sich im Gästebuch. „Drei Mädels aus Österreich“ finden „die Idee mit dem Raum der Stille total super. Haben hier gut relaxed.“ Eine andere Besucherin sagt: „Dankeschön! War wunderbar entspannend, aber jetzt muss ich leider weiterarbeiten.“
Der bärtige Philips-Manager hat lange mit Seelsorger Niemann über Gott, die Welt und die Messe geschwatzt, bevor er sich dem Buch widmet. Nach der Lektüre scannt er den Raum, kein Detail darf seinen Augen entgehen, bevor er sich zur verdienten Interimsruhe setzt. Jetzt erst schließt er die Augen: eine Minute, zwei, fünf, zehn Minuten. Man mag den Manager fragen, was in seinem Hirn vorgeht. Aber das verbietet das oberste Gebot im Raum der Stille. Die Technik ist nicht so sensibel: Eine blecherne Schlagermelodie ertönt, der Manager schreckt auf, reißt sein Handy aus der Jacketttasche. Oh Gott!
RICHARD ROTHER
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