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forum westberlinKlaus Wowereit erklärt in der Urania die Politik

Berlin is ’ne ganz tolle Stadt

Das letzte Mal, dass ein Politiker vor ausverkauftem Urania-Saal sprach, war Ende der 80er-Jahre. Damals erklärte Michael Gorbatschow sein Glasnostprogramm. Am Montagabend spricht erstmalig auch Klaus Wowereit zum Bildungsbürgertum. Die Karten sind ausverkauft und die West-Berliner abendlich gekleidet. Vortrags-Thema: „Die deutsche Hauptstadt zwischen Mentalitätswechsel und Berlin-Pakt“. Oder simpler formuliert, wie es die Unterzeile tat: „Was kann so bleiben wie es ist, was müssen wir verbessern?“

Unwahrscheinlich, dass das Publikum Visionen mit der Tragweite von Glasnost oder Perestroika erwartet. Klaus Wowereit nämlich gab für einen Abend wieder den Stadtrat aus der Berliner Provinz, den Kumpeltyp aus dem Kulturverein von nebenan. Charmant und sonnig jongliert er mit Abstraktionen wie strukturellem Defizit, Prioritäten und harten Schnitten. Mit dem sympathischen Landeschef kann jeder, der will, im Saale ein Haushaltsexperte sein. Denn Wowereit versteht es, komplexe Dinge luftig darzustellen. Nur wenn Kritik aus den roten Plüschreihen zum Regierenden hochdringt, lässt er wissen, dass alles viel zu kompliziert sei, um anders entschieden worden zu sein, als es entschieden worden sei. Er ist ein netter Volkstribun, der Berliner Bürgermeister. Und den Ärger der Berlinerinnen und Berliner, ja den versteht er nur zu gut. Bürger Klaus Wowereit ärgert sich mit den Menschen in den Sesselreihen vor ihm über den Filz in „unserer Stadt“. Mit Sätzen wie: „Beim Erkennen der Probleme sind die Bürger oft weiter als die Politiker.“ Oder: „Bei der Aufsicht über die Bankgesellschaft hat das Parlament versagt, das ärgert mich ja selbst.“ Der Vortragende wird gleichsam zum Kritiker des Vortragenden. Da bleibt für diejenigen, die sich vorgenommen haben unflätig zu werden, nichts weiter zu tun.

Was bei Gorbatschow einst Perestroika hieß, heißt bei Klaus Wowereit in den Niederungen der Berliner Ebene „Mentalitätswechsel“ oder, noch deutlicher: „Es gibt keine Alternative zum Sparen.“ Die Systeme, so Wowereit immer wieder, sind nicht mehr leistungsfähig. Und alles, was die öffentliche Hand finanziert, muss durchforstet werden. Diese Botschaft verteilt der Regierende in vielen Arabesken und lässt sich auch von Zwischenempörungen nicht aus der freundlichen Ruhe bringen. Immer wieder lamentiert der Stadtchef, dass der Bund und die Länder kein Verhältnis zur deutschen Hauptstadt haben. Doch wenn er davon spricht, was die Hauptstadt ist und sein könnte, hört es sich an, als stünde Eberhard Diepgen auf dem Podium. Da ist die Rede vom Kompetenzzentrum Ost-West und der „tollen Stadt“, die einzigartig auf der ganzen Welt ist.

„Bla, bla“ kommentiert ein Zuhörer aus den hinteren Reihen. Es war der schärfste Anwurf an diesem Abend in der Volksbildungsstätte Urania. Beim Hinausgehen diskutiert eine Angestellte des Berliner öffentlichen Dienstes mit ihrem Bürokollegen, ob Wowereit nun einen „Lernprozess durchmacht“ oder nicht. Nee, meint der müde, der lernt nüscht mehr. ADRIENNE WOLTERSDORF

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