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Archiv-Artikel

fichten-mobbing Ku‘damm-Krücke, komm bald wieder!

Au

weia.

Hungerharke.

Krüppelfichte.

Pannenbaum.

Ku’damm-Krücke.

Blamabel, das Ding.

Schimpf

und

Schande

ergießen sich über die 18-Meter-Fichte aus dem sauerländischen Winterberg, die der Schaustellerverband zur Umsatzförderung auf dem Gedächtniskirchen-Weihnachtsmarkt aufstellen ließ. Passanten rümpfen die Nase, spucken aus. Die Presse gibt den Pranger. Und diesmal sollte doch alles besser werden.

Wir erinnern uns: November 2000. Aus Oberfranken kommt die erste Krüppelfichte. Stundenlang Spott, dann Kettensäge. Die Äste

gehen an den Zoo:

Elefantenfutter.

Ersatz kommt aus Spandau.

2001: Auf dem Breitscheidplatz kümmert eine zerzauste Schwedentanne, die Franken liefern reuig eine Fichte an den Ernst-Reuter-Platz. Sie zerbricht. Altersschwäche. Erneuter Aufschrei. 2002 die Zäsur: Alle lieben eine Rudower Rotfichte. Und dieses Jahr geht der Skandal von vorne los. Der Schausteller-Chef flucht: „Das ist der letzte Baum, der nicht aus Berlin kommt.“

Soll der Mann Recht behalten? Auf gar keinen Fall. Lassen wir einmal außer Acht, dass den Jahresendmarkt an der Alexanderstraße ein jugendfrischer Nadelbaum ziert. Oder dass sich in den Jahren vor der Millenniumsfeier auch an der Gedächtniskirche sattgrüne Äste streckten. Dahin wollen wir gar nicht mehr zurück. Berlin braucht die nadelnden Monster, es braucht sie so sehr wie

Schlossdebatte

und Ersten Mai.

Warum? Weil wir uns nach Ritualen sehnen. Rituale schenken Geborgenheit, Pädagogen wissen das. Aber wir brauchen auch lebendige, aufwühlende Rituale. Das Weihnachtsbrimborium für sich, wen treibt’s noch wirklich um? Man kauft und schenkt und isst. Gut. Die Fichtenfehde aber rührt an tiefere Schichten. Sie ist nichts weniger

als ein aggressives

Vehikel kollektiver

Selbstvergewisserung.

Wir: Hauptstadt. Ihr: Provinz. Die waldreiche Peripherie legt ihre vermeintlich schönsten Gewächse als Opfergaben auf den Altar der Metropole. Und wir? Senken cäsarenhaft den Daumen. Nein, das war wohl wieder nichts. Kopf ab. Wir können’s eh besser. Rudow sticht Sauerland. Wie sich das schon anhört: Sauerland.

Moment mal, was soll denn das heißen: So eine Überheblichkeit ist selbst total provinziell? Hörn’se auf. Frechheit. Fast so unverschämt wie die Behauptung des Winterberger Kurdirektors, er habe Berlin mit seiner Nadel-Niete „etwas Gutes“ tun wollen. „Aus Mitleid!“ Geht es uns etwa schlecht?

CLAUDIUS PRÖSSER