fernöstlicher diwan: Einmal Fussball gespielt, fürs Leben gelernt
Es!
In Kaiserslautern aufzuwachsen, ohne sich für die Bundesliga zu interessieren, ist, wie in Palästina aufzuwachsen, ohne sich für die Intifada erwärmen zu können. Der Betzenberg thront gleich einem blitzenden Raumschiff über der Stadt, alle zwei Wochen erwacht er zu brüllendem Leben. Nur ein einziges Mal besuchte ich dort ein Spiel des FCK, als Zehnjähriger an der Hand meines gleichmütigen Großvaters. Wir waren spät dran, der Berg rief, und ich drängte Opa zu schnellerer Gangart. „Wegen dem Betze brauchen wir doch nicht gleich zu rennen“, sagte der weise Mann und erteilte mir damit eine erste Lehre in Sachen Fußball: Fußball ist nicht wirklich wichtig.
ARNO FRANKS WMMein Spieler: Paraguays dicke Torwart-Henne ChilavertMein Team: Deutschland, wenn’s recht ist.Mein Weltmeister: bis Sonntag ja wohl immer noch Frankreich
Die zweite Lehre erteilte mir ein Unbekannter wenige Minuten später, als wir endlich im Stadion waren und ich ein Tor der gelben Mannschaft bejubelte. Mit einem leichten Klaps auf den Hinterkopf bedeutete mir der Fremde, dass ich Dortmunder Borussen angefeuert hatte, die gerade den 1. FC Kaiserslautern in Grund und Boden spielten. Ich lernte also: Fußball ist zwar nicht wirklich wichtig, aber du musst trotzdem wissen, wo du stehst.
Wenn auf dem Schulhof mit Tennisbällen gekickt wurde, stand ich genau richtig. Zu dick und unbeweglich, um mitspielen zu dürfen, warf ich mich dazwischen und kommentierte die Spiele. Live. Sogar eine Kamera hatte ich mir zu diesem Zweck angeschafft, eine bemalte Schuhschachtel mit einer leeren Klorolle als Objektiv: „Von links müsste Kai schießen, Kai schießt … TOOOOR!“, so wie ich es auf der Kassette „Die besten WM-Reportagen von 1954 bis 1974“ gehört hatte.
Später war ich, als Elfjähriger, atemloser Zuschauer des nachweislich spannendsten und brutalsten Spieles aller Zeiten: Frankreich gegen Deutschland im Halbfinale der Weltmeisterschaft 1982. Zehn Minuten vor Schluss steht es 1:1, und nach einem Pass von Platini stürmt Battiston dem hohen Ball hinterher, völlig frei vor Torwart Toni Schumacher, der aus dem Kasten sprintet, beide Spieler steigen in die Luft, Schumacher merkt, dass er es nicht schafft, dreht sich leicht zur Seite – und trifft den Franzosen mitten im Gesicht. Battiston wird bewusstlos und mit gebrochenem Oberkiefer vom Platz geschafft, mehrere Zähne tragen ihm die Sanitäter in einem blutigen Taschentuch hinterher. Dass Deutschland in der Verlängerung mit 1:3 in Rückstand geriet, bevor Karl-Heinz Rummenigge und Klaus Fischer zum 3:3 ausgleichen konnten, um dann das Elfmeterschießen doch noch zu gewinnen – egal. Andere Kinder guckten Splatterfilme oder bliesen Kröten mit Strohhalmen so lange auf, bis die platzten. Ich für meinen Teil las Stephen King und sammelte Horror-Fouls. Unvergessen ist mir auch Ewald Lienens entsetzter Blick, nachdem ihm ein Gegenspieler mit den Stollen die Wade aufgeschlitzt hatte, von der Ferse zur Kniekehle, bis auf den Knochen. Es lebe der Sport: Fußball ist zwar nicht so wichtig und tut weh, aber du musst wissen, wo du stehst, am besten nicht im Wege. Ich beschloss, etwas für meine Fitness und gegen meine Dickness zu tun – und wurde Torwart in einem kleinen Verein. Eine kurze Karriere.
Es stand 2:0 und ich im Tor. Es war „em Fritz Walder sei Wedder“, wie wir Pfälzer zu sagen pflegen, und der Hartplatz hatte sich in ein schlammiges Schlachtfeld verwandelt. Zwei gefährliche Schüsse waren mir bereits zwischen den Handschuhen oder Knien hindurchgerutscht. Der dritte traf mich zwischen den Beinen an einem Körperteil, der pubertierenden Jungs besonderen Spaß bereitet. Mit diesem Schmerz hatte ich bereits Bekanntschaft geschlossen, als ich auf meinem Herrenrennrad mal von den Pedalen gerutscht war. Aber das hier war anders. Ich weiß noch, wie der nasse Wind durch die Weiden am Spielfeldrand ging. Ich weiß noch, alle anderen Spieler erstarrten und starrten. Ich weiß noch, wie mich der besorgte Schiedsrichter von hinten packte und die akut betroffene Stelle mit reibenden Bewegungen reanimierte. Vor allen Leuten, die nachmittags auf einem Bolzplatz eben herumstehen. Ich weiß nicht mehr, warum er das tat. Ich weiß auch nicht, ob das wirklich etwas mit Erster Hilfe zu tun hatte. Aber ich weiß noch, dass ich danach keinen Fußball mehr spielen wollte. Nie, nie, nie wieder.
ARNO FRANK
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