fernöstlicher diwan: Gewinnen ist alles. Aber es macht nicht glücklich
Der aufgehobene Fußballalltag
Das Schöne an einer WM ist, und das wurde ja in dieser Kolumne oft beschworen, dass sie wie kaum ein Ereignis den Alltag aufhebt: Straßen sind leer gefegt, Produktion steht still, Bier fließt klassenübergreifend. Das Allerallerschönste aber ist, dass nicht nur der ganz alltägliche Alltag aufgehoben scheint, sondern auch der Fußball-Alltag. Wenn jedes Spiel zur nationalen Sache wird, regiert endlich nicht mehr nur Ergebnisorientierung. Alle vier Jahre geht es mal nicht nur ums Gewinnen, sondern auch ums Wie, um Gewinnen mit Stil.
THOMAS WINKLERS WMMein Spieler: Japans FriseurMein Team: Japan. Wegen Japans Friseur Mein Weltmeister: Brasilien. Trotz Ronaldos Friseur
Wenn wieder einmal ein Bundesligaspiel mit einem jener Erfolge endet, die wir uns gemeinhin und beschönigend Arbeitssieg zu nennen angewöhnt haben, heißt es stets: Ergebnis zählt, morgen weiß keiner mehr, wie es zustande kam. Bei einer WM ist alles anders: Nach dem Viertelfinale gegen die USA fand nicht nur die sonst zwischen spröde und stramm patriotisch wankende Nachrichtenagentur dpa die deutsche Leistung „erbärmlich“, das ganze Land schien peinlich berührt. Schließlich hatte die ganze Welt gesehen, wie hässlich der deutsche Fußball ist. Nur einer hatte nicht aufgepasst: „Wer gewinnt, hat gut gespielt“, formulierte Edmund Stoiber eben jene Weisheit exemplarisch, die bei einer WM ausgesetzt wird.
Auch die jungen deutschen Kicker, die zum großen Teil ihre erste WM spielen, glauben noch fest an das kurze Gedächtnis des Alltags. Nach dem USA-Desaster vertrauten die meisten darauf, ihr Spiel möge morgen vergessen sein, nur das Ergebnis in Erinnerung bleiben. „In zwei Tagen fragt da kein Mensch mehr nach“, täuschte sich selbst Vorturner Kahn. Und nach dem ordentlichen Halbfinale versprach DFB-Präsident Mayer-Vorfelder, „dass die Kritiker jetzt verstummen“. Aber ein Blick in die Geschichte beweist: Die Nestbeschmutzer werden vom nationalen Überschwang nur kurzzeitig mundtot gemacht, in der Geschichtsschreibung aber kehren sie verdientermaßen zurück. Die Vizeweltmeister von 1982 leben noch heute mit der Schande von Gijon. Die Finalisten von 1986 hätten den knapp verpassten Titel gar nicht verdient gehabt, sagte damals selbst ihr eigener Teamchef, ein gewisser Franz Beckenbauer. Dabei war das damalige DFB-Team, verglichen mit der aktuellen Erscheinungsform, eine vergleichsweise spielstarke Truppe.
Selbst Titelträger werden bekrittelt. Die Weltmeister von 1954 verwehrten der vielleicht besten Fußballmannschaft aller Zeiten, dem ungarischen Wunder-Team, den krönenden Abschluss einer bis heute einmaligen Serie. 1974 gewann eine Mannschaft, die dominiert wurde von beim FC Bayern München ausgebildeten Technokraten, den Titel gegen den niederländischen Traum vom „totalen Fußball“. 1990 war man nach allgemeiner Meinung zwar tatsächlich mal am besten: Der Sieg der Mannen um Matthäus aber wird interpretiert als Symptom für die defensive Agonie, in der der Weltfußball zu dieser Zeit lag.
Sollte also morgen das DFB-Team gewinnen aus Gründen, die allerdings erst noch erfunden werden müssen, wird womöglich Oliver Kahn in die Historie eingehen als erster Torhüter, der Fußball erfolgreich zur Einzelsportart degradierte. Wahrscheinlicher allerdings wird sich das DFB-Team auf ewig als größter Irrtum in die WM-Geschichte einschreiben –mit oder ohne Titel.
Und so geht es nicht nur bei uns zu: Noch heute muß sich Carlos Alberto Parreira anhören, dass er 1994 in den USA als Trainer der brasilianischen Mannschaft sicherheitsverliebten Beamtenfußball hat spielen lassen. Dass die Seleção den Titel holte, nahm man an der Copacabana so mit, trieb ein paar Tage lang die Samba-Kapellen für die internationalen TV-Teams auf die Straße und träumte dann wieder fröhlich vom 70er Team. Ziemlich exakt dasselbe wird in wenigen Tagen Luiz Felipe Scolari widerfahren, wenn eine Nation die Feierlichkeiten zum fünften Titelgewinn abgeschlossen hat und sich wieder daran erinnert, wie dieser zustande kam: Weitgehend wenig würdevoll nämlich und gegen durchgängig zweitklassige Konkurrenz.
Kurz: Der Erfolg mag die Mittel heiligen. Aber manche Mittelchen machen eben glücklicher als andere, und davon werden nicht alle in Pulverform verabreicht. Damit man sich die zukünftige Drogenpolitik einer konservativen Regierung schon ausmalen kann, ließ Kandidat Stoiber nach dem nüchternen Halbfinal-Sieg prompt verlauten: „Das ist ein großartiges Ergebnis für unser Land.“ Das wäre ein armes Land, in dem wirklich allein das Ergebnis zählt. THOMAS WINKLER
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