erfurt: Was wir nicht verstehen
Schon am Tag danach hatten viele die Sprache wieder gefunden. Edmund Stoiber weiß, was zu tun ist. Das Massaker habe gezeigt, wie schlimm Gewaltvideospiele sind. Schon vor zehn Jahren habe er ein Verbot gefordert, aber keiner habe auf ihn gehört. Ein Kardinal meint wolkig, der Jugend würden zu wenig Werte vermittelt. Ein CDU-Politiker fordert mehr Geld für die Schulen. Und gesinnungsfeste Transatlantiker weisen vorsorglich darauf hin, dass die USA, in denen das „rampage killing“ erfunden wurde, auf kein Fall schuld sind.
Kommentarvon STEFAN REINECKE
So ist es immer, danach. Im Moment des ersten Schreckens stockt die Interpretationsmaschine. Sogar der CSU-Politiker Beckstein, der sonst immer weiß, was zu tun ist, war anfangs ratlos. Dann gerät sie wieder in Fahrt: Es wird eingeordnet, gefordert und angeklagt. Fast alle sagen, was sie schon immer gesagt haben.
Der unschwer zu erkennende Effekt dieses medialen Palavers ist es, die aus dem Lot geratene Normalität wiederherzustellen. Gerade dass alle Beteiligten weitgehend das Erwartbare sagen, suggeriert dem Publikum: Alles ist wie vorher. Auch nachdem das Unverständliche geschehen ist, bewegen wir uns noch in den gleichen Koordinaten- und Verständigungssystemen.
Links ist noch links, rechts noch rechts. Die CSU sehnt sich nach der heilen, autoritären Familie, die Grünen wollen schärfere Waffengesetze. Die Routine gewinnt wieder die Oberhand, der Schrecken schrumpft wieder auf verträgliches Maß. Und es wird suggeriert, dass etwas getan werden kann, dass das Problem, wie jedes andere auch, lösbar ist – je nach Fasson mit Verboten von Videos oder mit mehr sozialpädagogischer Betreuung.
Offenbar brauchen wir solche Selbstberuhigungsrhetorik. Sie ist ein Abwehrzauber, eine Art Therapie, mit der wir unsere Verwirrung bekämpfen können. Denn der Amoklauf von Erfurt hat erschüttert, was wir für selbstverständlich halten: unsere Gewissheit, dass unkontrollierbare Gewalt immer woanders stattfindet. In Erfurt kam sie aus unserer Mitte, aus wohlsituierten Verhältnissen. Sie hat sich, soweit man weiß, nicht angekündigt. Und sie hat keinen Sinn. Besonders grausig erscheint uns die Tat auch, weil wir für sie schlicht keine Lesart haben. Gerade deshalb bedroht sie unser ziviles Selbstbild.
Die ungemütliche Wahrheit lautet: Wir verstehen diese Tat nicht. Wir haben dafür kein Deutungsmuster, noch nicht einmal die richtigen Worte. Was man nicht begreift, darüber muss man wenigstens reden.
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