eine recherche der taz und des kulturradios lotte in weimar: Auf der Suche nach der deutschen Leitkultur*
„Etwas anderes als die ausländerfeindliche Kultur des Herrn Merz“
Alfred Grosser, jüdisch-französischer Intellektueller und emeritierter Politologe, Paris:
Vielleicht ist die deutsche Leitkultur etwas, das es wahrhaftig nur in Deutschland gibt: Die Tatsache, dass die Bundesrepublik das einzige Land in Europa ist, das seine politische Kultur nicht auf dem Begriff der Nation aufgebaut hat, sondern auf eine politische Ethik. Das heißt, die doppelte Ablehnung des Nationalsozialismus in der Vergangenheit und des Kommunismus in der direkten Nachbarschaft.
Diese Kultur ist es, die die Bundesrepublik aufgebaut hat, und diese Leitkultur ist es, die die Wiedervereinigung unter Artikel 23 gerechtfertigt hat – eine Ausdehnung der freiheitlichen Demokratie bis an die polnische Grenze. Was anderes kann ich mir unter der deutschen Leitkultur nicht vorstellen. Und hoffen kann ich nur, dass die deutsche Leitkultur etwas anderes ist als die ausländerfeindliche Kultur, die Herr Merz darunter versteht.
Abstrakt hingegen kann ich mir unter dem Begriff der Leitkultur nur sehr wenig vorstellen. Es gibt Kulturen. Kultur – im Singular – hingegen hat drei Bedeutungen. Zum Ersten das Schöngeistige, Musik, Theater. Zweitens den gemeinsamen Glauben, die gemeinsame Überlieferung einer Gemeinschaft. Und zum Dritten die aufklärerische Kultur, die die zweite in Frage stellt. Die Kultur also, wo ich mich frage: Warum glaube ich, was ich glaube; warum denke ich, was ich denke; wo versteckt sich unsere falsche gemeinsame Erinnerung? Und in diesem Sinn könnte die gemeinsame Leitkultur höchstens diejenige sein, die ständig in Frage stellt, was man glaubt.
*„Zuwanderer müssen sich der deutschen Leitkultur anpassen“ (Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion)
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