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dieter baumann über LaufenDas Trauern überfordert den Sport

Warum am Sonntag 30.000 beim New York Marathon nicht trauern, sondern bloß laufen – und warum das okay ist

New York! Berlin, Köln, Chicago, München, Frankfurt – kein „großer Marathon“ kann sich mit dem in New York messen. Aber: Muss, soll, darf das Rennen an diesem Sonntag tatsächlich sein? Für die Organisatoren war das nie eine Frage: Es muss! Und damit keine Zweifel aufkommen konnten, wurde schon einen Tag nach dem Attentat ein Rundschreiben aufgesetzt. Teilnehmer und Medien lasen, dass „es keinen Grund gibt, zu glauben, dass der New York Marathon am 4. November nicht stattfindet.“

Wirklich keinen? Schließlich sind viele der Feuerwehrleute und Helfer in den Trümmern des World Trade Centers gestorben, die sonst jedes Jahr beim New York Marathon mitgewirkt haben. Doch auch wenn New York trauert – es läuft.

Und das ist auch völlig in Ordnung. Und zwar so in Ordnung, dass man noch nicht einmal dieses Dauerargument bemühen muss, man dürfe „dem Terror nicht nachgeben“.

Die Läufer plagt sowieso etwas anderes: ihre eigene Sicherheit. 30.000 Einheimische und Marathon-Touristen aus der ganzen Welt starten von der Verrazano Narrows Bridge, laufen durch Queens, Brooklyn, die Bronx und Manhattan. Für Sicherheitsexperten ist das der wahre Horror. Schutz und Sicherheit kann niemand in diesem Gedränge garantieren. Die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Anschlags mag gering sein, Restzweifel bleiben.

Viele deutsche (Freizeit-)Läufer restzweifelten daher bis zum Schluss, ob sie nun die Reise in die USA antreten sollten oder nicht. Wieso eigentlich dieses lange Grübeln, haben sie es nicht ganz einfach? Sie könnten sich doch leicht entscheiden! Betreiben sie denn ihren Sport nicht nur zum Spaß? Und hört da der Spaß nicht auf?

Nein, Laufen ist kein „Spaß“; am Ende muss fast jeder an den Start. Auch der angebliche Freizeitläufer. Es ist ein innerer Zwang. Es muss sich doch gelohnt haben: die Stunden und Stunden des Trainings, durchschnittlich 40 bis 60 Kilometer in der Woche. Alle Teilnehmer an einem Marathon „durchlaufen“ im wahrsten Sinne des Wortes drei bis sechs Monate Training, die sie jeden Tag wieder Überwindung kosten.

Wer am Straßenrand steht und wohlwollend klatscht, dem mag es langsam vorkommen, wenn ein Läufer im Hauptfeld erst nach vier oder fünf Stunden Kilometer 42,195 erreicht. Aber an der Ziellinie liegt eben nicht nur der New York Parcours hinter ihm, sondern eine viel längere Strecke. Das gilt natürlich ebenso und besonders für die wenigen Profis unter den Startern. Sie haben erst recht für den Lauf gelebt und gearbeitet. Ein ganzes Lebensjahr war auf den Höhepunkt New York ausgerichtet. Ein Ausweichen auf andere Wettbewerbe ist Ende Oktober nicht mehr möglich. Jetzt zu verzichten, hieße: alles umsonst. Alle Leiden und Leidenschaften im Training, aber auch die realen Ausgaben, abzuschreiben.

In einer Athletenkarriere ist ein Jahr kostbar. Also werden die Läufer in New York an den Start gehen. Sie werden in jeder Laufminute darum kämpfen, Muskeln, Herz und Lunge zu Höchstleistungen zu motivieren. Dabei wird alles vergessen sein – die Diskussionen, die Sicherheitsfrage, die Katastrophe. 30.000 Menschen werden mit ihrem Körper beschäftigt sein.

Ich finde: Das ist kein Zeichen von Gefühlskälte oder mangelnder Betroffenheit. Im Sport lebt der Mensch Emotionen aus, die sich in tausenden von Jahren entwickelt und konserviert haben. Natürlich wird der Sieger am Zielband die Arme in die Höhe reißen. Dasselbe wird der Läufer tun, der Stunden später seinen ganz persönlichen Sieg feiert.

Die Wahrheit ist: Gedenken und Trauern überfordern den Sport. Das haben die teilweise halbherzigen, teilweise peinlichen Versuche unmittelbar nach dem 11. September gezeigt. Die Läufer kommen nach New York, um zu laufen. Man muss sie laufen lassen.

Fotohinweis:DIETER BAUMANN ist 5.000-m-Olympiasieger von Barcelona.

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