die wahrheit: Walser und die Neonazzis
Im rollenden Volksbildungsheim: Wie zwei Wahrheit-Autoren einmal die Welt erklärten.
"Sachma, ihr kennt euch doch aus mit so was: Wenn hier der Walser liest, warum stehn da auf der anderen Seite eigentlich die mit den Glatzen und freuen sich?"
Herr Eckenga und ich fuhren um Mitternacht in einem Taxi durch Dortmund, als uns der Fahrer mit dieser Frage überraschte wie mit einem gelungenen Hackentrick. "Äh Wie bitte?", fragte ich verwirrt und leicht dun von der hinteren Sitzbank nach. Der Fahrer, ein zirka sechzigjähriger Westfale wie aus dem Westfalen-Bestellkatalog, mit Haarkranz, Strickjacke und voll funktionierender Ruhrgebietslang-Soundkarte, zeigte auf einen innerstädtischen Hochkulturveranstaltungsort und präzisierte: "Da in dem Ding da, wenn da der Walser, wie heißt der ?" - "Martin", kam ihm Herr Eckenga abwesend und seine Jacke nach Zigaretten durchsuchend zur Hilfe. "Genau, den mein ich, wenn der da aus seinen Büchern vorliest, stehen gegenüber disse Neonazzis und freuen sich. Watt könnte datt bedeuten?"
Puh, dachte ich, die Situation blitzschnell analysierend, das kann ja was werden. Wir hatten es hier mit einem Menschen zu tun, der erfreulicherweise am Weltgeschehen nicht uninteressiert war, aber offensichtlich die Feuilletondebatten der letzten Jahrzehnte nicht verfolgt hatte. Unsere Aufgabe war es nun, ihn aus diesem Zustand der Gnade herauszuführen, also in den restlichen geschätzten zehn Minuten Fahrzeit mal schnell die Walser-Paulskirchenrede-Debatte aufzuarbeiten. Kurzum: Hochdruck-Volksbildung lautete unser Auftrag.
"Also", setzte Herr Eckenga an, "der Walser der hat da mal sone Rede gehalten und die war " Und hier stockte er schon wieder. Das lag nicht nur an der Komplexität des Themas, sondern auch daran, dass er - sagen wir es höflich - aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit und der Getränkeauswahl nicht mehr ganz im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. "Sach du doch ma!", spielt er den Ball feige auf die Rückbank ab. Glücklicherweise bekam ich noch ein paar Sekunden Bedenkzeit, denn Herr Eckenga bat unseren wissbegierigen Dienstleister, noch einen Umweg zur nächsten Tankstelle zu fahren, wo er neue Rauchwaren erwerben wollte. "Kein Problem. Datt muss wohl drin sein", ruhrpöttelte der Taxifahrer. Um den ersten Zigarettenhunger zu stillen, bot dieser eine von seinen an. "Aber machs Fenster auf, wegen Nichtrauchertaxi!"
Ich hatte mich inzwischen entschieden, keine tendenziöse Deutung der Walser-Affäre zu liefern, sondern eine möglichst neutrale Darstellung: "Was der Walser mit dieser Rede sagen wollte ist bis heute unklar vor allem ihm ", versuchte ich den senilen Schriftsteller alkoholmilde in Schutz zu nehmen, warum auch immer. "Na ja, gesacht hat er", klinkte sich Herr Eckenga nikotingestärkt und dadurch überraschend klar wieder ins Gespräch ein, "dass die dauernde mediale Berieselung mit den Naziverbrechen dazu führt, dass man nur noch wegkuckt und sich am Ende überhaupt nicht mehr damit beschäftigt. Und dass der Holocaust immer missbraucht wird. Auschwitz-Keule hat er das genannt".
"Ach watt! Auschwitz-Keule - datt is von dem?", wunderte sich der Taxifahrer. "Datt is jan Ding!" Aber dann dämmerte ihm irgend was: "War das die Sache, wo der Ignatius Bubis, der von den Juden, so ärgerlich geworden ist?" Jetzt wurde es interessant und im nächsten Moment noch viel interessanter: "Hat der, dieser Ignatius, nicht mal irgendwo Geld unterschlagen? War da nich ma was?"
Herr Eckenga und ich schauten uns an. Mal abgesehen vom falschen beziehungsweise unangenehm jesuitisch lateinisierten Vornamen: Jude? Geld unterschlagen? Würde gleich das deutsche Personenbeförderungswesen seine antisemi1tische Fratze erheben? Und hatten wir zwei heute in Dortmund Political-Correctness-Nachtdienst? Würden wir einschreiten müssen? Gerade als Herr Eckenga und ich zeitgleich ansetzten, kam die Entwarnung: "Nee, nee, ich glaub, da hab ich was durcheinandergebracht. Das war ja dieser andere vonner FDP, na, wie heißt der noch mal?" Sehr schön: Der Korruptions- und Geldgeilheitsverdacht Bubis gegenüber nährte sich nicht aus dessen Zugehörigkeit zum Judentum, sondern aus seiner FDP-Mitgliedschaft. Das war schon wieder sympathisch.
In der Zwischenzeit standen wir an der Tankstelle, Herr Eckenga kaufte eine Packung Gauloises. Der Taxifahrer überbrückte die Pause, indem er laut dachte: "Und disse Nazzi-Köppe, die dann da stehen, die freuen sich, weil der Walser denen hilft. Sozusagen. Weil die auch nicht wollen, dass alle immer über die KZs reden." - "Hmh", stimmte ich zu. "Weiß der Walser, was er da macht?", sinnierte der Taxifahrer. "Gute Frage," antwortete ich, "die müssense mal dem Walser stellen."
Als wir schließlich aus dem Taxi ausstiegen, sagte unser Chauffeur: "Gut, dass wir da mal geklärt haben, das mit dem Walser und den Nazzis." - "Klar, dafür sind wir ja da", sagte ich, und dann gingen Herr Eckenga und ich etwas nützlicher in die Nacht.
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