die wahrheit: Frisch gefühltes Feeling
Das schlaue Wahrheit-Essay: Ich, du, ihr und wir und die Einheit des Empfindens.
Früher hörten die Leute auf ihr Gehirn. Kopf auf beim Autokauf!, hieß es zum Beispiel, und der Herr Käufer achtete auf einen hieb- und stichfesten Motor und möglichst große Luft im Kofferraum. Heute spielen raue Fakten keine solche Geige mehr: Wichtig ist das weiche Wohlgefühl, ausgelöst vom süßen Schnurren der Zylinder und dem schmusigen Bssssss der Fensterheber. Weil sich die Autos heute wie ein Huhn dem anderen gleichen, scheint es eben sinnvoll, sich keinen Kopf mehr wachsen zu lassen - um satt reinzufallen, denn ein splitterfaserneuer Pkw aus Groß-Ardistan sieht frisch vom Band zwar gottvoll aus wie die Jungfrau persönlich, doch nach neun Monaten kullern die ersten Motorschrauben durch die Fahrerkabine.
Der Autokauf ist nur ein Beispiel dafür, dass die Welt kompliziert gebaut ist und den Leuten über den Hut wächst. Einfache Lösungen liegen nicht auf der Straße, die schwierigen aber passen kaum in die normalen Dachstübchen. Also entscheidet man aus dem dicken Bauch heraus und packt Gefühle auf den Tisch. Was mit der "gefühlten Temperatur" begann, hat binnen weniger Jahre kübelweise Kinder gezeugt, das "gefühlte Regenwetter" ebenso wie die "gefühlte Gerechtigkeit" und, im Spiegel der vergangenen Woche, die "gefühlte Moral"; die Ökonomie kennt die "gefühlte Konjunktur", die "gefühlten Preise" und die "gefühlte Inflation", die "gefühlte Arbeitslosigkeit" und die "gefühlte Pleite"; in der schönen neuen Gefühlswelt existieren die "gefühlte Zahl" und die "gefühlte Entfernung" ebenso pflaumenweich wie die "gefühlte Schneehöhe", die "gefühlte CeBIT-Besucher-Beteiligung" und das "Gefühl Englischer Garten".
Arschfett ist diese "gefühlte Wirklichkeit" von "gefühlter Authentizität", und die Bild-Zeitung ist gefühlter Papst. Selbst das "gefühlte Wissen" (Horst Evers) und das "gefühlte Gefühl" (Michael Rudolf), als Parodie in die Welt gepflanzt, treiben ernste Blüten, die "gefühlte Gewissheit" (Mathias Greffrath in der Le Monde diplomatique) ist schon längst da.
Eines Tages werden Pisa-Studiengänger 47 als gefühltes Ergebnis von 7 x 7 akzeptieren, in der Politik wird eine gefühlte Demokratie genügen. Das 21. Jahrhundert steckt noch in den Kinderbeinen, aber Gefühle hat es bereits wie ein ausgefuchster alter Sack: Eine gefühlte Bedrohung reichte den USA, um den Irak zu demolieren, eine gefühlte Beleidigung durch Mohammed-Karikaturen war genug, um die dümmeren Teile der Weltbevölkerung überkochen zu lassen. Eine in patriotischem Dusel schäumende Fußball-WM ließ durchgedrehte Soziologen eine "Weltgefühlsgemeinschaft" an die Wand pinseln, und die CDU schürt in ihrem akuten Grundsatzprogramm das "patriotische Zusammengehörigkeitsgefühl".
Wohin eine gefühlte Bedrohung führt, hat Vater Staat beim G-8-Konzil in Heiligendamm seinen Bürgern zu schmecken gegeben, und wie raffiniert Wolfgang Schäuble die Terrorangst hochkurbelt, um einer vergifteten Öffentlichkeit seine finsteren Gesetze einzutränken, ist bekannt.
Bedeutsamer als trockene Tatsachen sind klamme Meinungen; einfacher als Gedanken mit Ecken und Kanten sind Gefühle, die in jeden Gimpel passen - weshalb das Privatfernsehen lieber auf nasse Emotionen setzt als auf den grauen Verstand.
Nicht kalte Überlegung, sondern das mollige Gefühl weist den Pappenheimern den Trampelpfad in der komplexen Welt und ordnet das unüberschaubar verflochtene Universum zu einfacher gestrickten persönlichen, lokalen, nationalen, kulturellen und allerlei sonstigen zurechtgehämmerten "Identitäten", bis am Ende womöglich Nation, Religion oder Esoterik in der eigenen Birne schwabbeln. Brunzdumm nur, dass die gar keine persönliche Duftmarke ausschwitzen, so wenig wie alle die gefühlten Gefühle, die geschickt zurechtgebastelte Abstraktionen sind wie die "gefühlte Temperatur", die von derart vielen eiskalten bis brühwarmen Faktoren abhängt (Luftfeuchtigkeit, Windgeschwindigkeit, Sonnenstand, Kleidung, Körpergröße, Gewicht, Hauteigenschaft, seelische Verfassung und sogar die wirkliche Temperatur spielen mit), dass sie für jedes Individuum eine andere Farbe hat und in einem seriösen Wetterbericht keinen einzigen Atemzug tun dürfte.
Am Ende kippt die Sache um: Die millionenfach schillernden Empfindungen werden mit dem Mittel des kühl rechnenden Kopfes vereinheitlicht, normiert und benutzt, um den werten Leuten eiernde Autos, breiige Fernsehprogramme und poröse politische Ansichten anzudrehen. Was scheinbar einzigartig ist, wird auf einen Einheitsgeschmack heruntergeschraubt; und wer glaubt, hier seinen letzten Rest Individualität zu wahren, verliert sie hier, in einem unmerklichen, aber alles und alle umfassenden Wir-Gefühl.
Hab ich jedenfalls so im Urin.
(GEFÜHLTER PROFESSOR)
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