die wahrheit: Rückwärts auf den Berg
Allgäuer Stammtischrunde spürt unerforschter Gravitationsanomalie bei Rom nach.
Es ist eine ungewöhnliche Wette: Michael Ulrich steht am Flughafen von Memmingen. "Schlagt ein, die Wette gilt", sagt er zu seinen beiden Freunden. Vordergründig geht es um eine deftige italienische Brotzeit und ein paar Flaschen Wein. Tatsächlich aber machen sich die Männer aus dem Allgäu auf, ein bislang wissenschaftlich nicht hinreichend erklärtes Phänomen in den Bergen bei Rom zu erforschen. Dieter und Klaus-Willi, die Reisepartner des Nesselwangers, erklären die Entstehung der Wett-Reise: "Michael hat am Stammtisch immer wieder von seinen zahlreichen Rom-Reisen erzählt und ständig von diesem Il Fenomeno gesprochen. Dann wollten wir es eben mal wissen." Der Ostallgäuer hat mehrere Bekannte in Rom und die hatten ihn irgendwann vor vielen Jahren zu dieser Straße zwischen dem Albaner See und dem Nemisee gebracht, um ihm ihr "fenomeno naturale" zu zeigen.
In Rom holen die Männer ihr Mietauto ab, und der erste Weg führt sie nicht etwa zum Kolosseum oder zum Pantheon, sondern rund 50 Kilometer weg von Rom zu einer unscheinbaren, vielbefahrenen Landstraße zwischen den Ortschaften Ariccia und Rocca di Papa. Hier, ganz in der Nähe der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo, soll es immer wieder passieren. Hier soll das geschehen, was den Nesselwanger Rom-Begeisterten Michael Ulrich immer wieder an diese Stelle führt. Gleich nach dem riesigen Viadukt von Ariccia geht es links ab, ein paar Kurven und dann liegt eine lang gezogene und völlig unscheinbare Landstraße vor den Il-Fenomeno-Reisenden. "Hier ist es", sagt Ulrich zum Fahrer.
"Fahr mal rechts ran, tu den Gang raus und nimm die Füße von den Pedalen." Dieter Kochendörfer schaut seine Reisebegleiter ungläubig an. "Hier? Da ist doch nirgends ein Schild oder sonst ein Hinweis?" Er schaltet die Warnblinkanlage ein, ganz vorsichtig - die rechte Hand sicherheitshalber leicht an der Handbremse - nimmt er den Gang raus. Der Fiat steht ohne zu rollen, obwohl es eindeutig bergab geht. Ein paar Sekunden steht der Wagen still am Straßenrand. Der Verkehr ist immens. Zahllose Fahrzeuge fahren vorbei, hin und wieder ein leichtes Lächeln in den Gesichtern der italienischen Fahrer. Plötzlich setzt sich das Auto ganz langsam rückwärts in Bewegung.
Der Fahrer hat tatsächlich beide Füße von den Pedalen genommen, er kann es nicht fassen, was hier an dieser Stelle passiert. "Er rollt tatsächlich, ich glaubs nicht", kommentiert er das ungewöhnliche Vorgehen. Der Mitreisende auf dem Rücksitz glaubt, die beiden Stammtischbrüder vorne im Kfz nehmen ihn auf die Schippe. "Steigt doch bitte mal aus, wer weiß, was ihr mir vormacht", fordert er die beiden anderen auf.
"Reiseleiter" Michael Ulrich nickt. "Kein Problem, das tun wir gerne. Keine Angst, der rollt nicht schnell, da passiert überhaupt nichts." An die Wette, an den Wein und die Brotzeit denkt in diesem Moment niemand. Etwas zögerlich, schließlich stehen sie an einer leicht abschüssigen Straße, steigen die Männer aus ihrem Auto und das rollt ganz gemächlich weiter, und zwar rückwärts den Berg hoch.
Wenig später kommt eine Gruppe Studenten aus Rom. Warnblinkanlage an, Gang raus, Handbremse gelöst, auch der Ford Ka rollt rückwärts den Berg hoch. "Die haben es mir nicht geglaubt", erklärt Simone, 21-jähriger Student der Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Rom, den anderen Rückwärtsfahrern aus Germania auf Englisch. Sein Kommilitone lacht und sagt, die 50 Euro habe er verloren. Schon wieder eine Wette auf Il Fenomeno. "Wir hier kennen das", sagt Simone, der aus der Gegend kommt und immer wieder mal eine Tour mit Freunden zu dieser Landstraße macht, ein Wett-Ausflug, der sich lohnt. "Was es ist? Wir wissen es nicht. Wir haben gelernt, dass es eine physikalische Anomalie ist. Wir stehen ja zwischen zwei Vulkanseen, dem Nemisee und dem Albaner See", erklärt der Student. "Manche Wissenschaftler sagen, es sei eine optische Täuschung, aber das ist doch auch schon widerlegt."
Letztlich ist es den jungen Römern egal. Sie haben einen Riesenspaß, fotografieren sich gegenseitig vor ihrem rückwärts rollenden Auto, drehen mit der Digitalkamera ein paar kleine Videos als Beweis.
Vollends verwirrend wird es, wenn man an dieser Straße bergab läuft, das geht schwerer als bergauf. Auch die Radfahrer, die sich hierher verirren, strampeln bergauf weniger als bergab. Und es gibt auch noch die Reisebusse, die immer wieder mal an diese Landstraße kommen, an die Via dei Laghi, die eine Verlängerung der Via Apia Nuova ist und die Hauptstadt Rom mit der Weinregion Frascati verbindet. Die Busse halten kurz an, schalten den Motor aus, legen den Leerlauf ein. Dann rollen sie, und wenige Minuten später sind sie auch schon wieder weg.
Viele Messungen wurden schon durchgeführt. Wissenschaftsjournalisten, die auch ein ähnliches Phänomen im polnischen Karpaz Córny am Fuße der Schneekoppe untersucht haben, sind sich sicher, die Theorie mit der optischen Täuschung widerlegt zu haben. Den Einheimischen zwischen dem Albaner und dem Nemisee ist das alles egal. Sie wissen, wenn sie von Ariccia nach Rocca di Papa fahren, müssen sie vorsichtig sein, weil immer wieder Neugierige anhalten, die Warnblinkanlage einschalten und rückwärts den Berg hochrollen.
Einer dieser Neugierigen, der das alles schon am eigenen Leib erlebt hat und den die Stammtischbrüder aus dem Allgäu alle kennen, ist Paul Wengert, der frühere Füssener und zuletzt Augsburger Oberbürgermeister. Die Füssener Partnerstadt Palestrina liegt nämlich hier ganz in der Nähe, und Wengert sagt, auch sein Auto sei schon rückwärts den Berg hochgerollt. Er fragt sich genauso: "Was steckt denn nun tatsächlich dahinter?" Die Version mit der optischen Täuschung kennt auch er, aber wer weiß schon sicher, was der wahre Grund für Il Fenomeno ist? "Unsere italienischen Freunde konnten uns natürlich gar nichts erklären", sagt er. "Non sospetto - keine Ahnung, aber die Straße bei Roca die Papa ist schon toll."
KLAUS WITTMANN
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