die wahrheit: Die Abspeckprämie
Ab sofort zahlt die Bundesregierung jedem Übergewichtigen Geld fürs Abnehmen.
Markus Gassner steht sinnierend vor dem Süßwarenregal des Rewe-Supermarkts in der Münchner Innenstadt. Mit gierigen Blicken betrachtet der 18-jährige Schüler des Heisenberg-Gymnasiums das umfangreiche Sortiment an leckeren Süßigkeiten. Doch nach einer Weile dreht er seufzend ab, greift sich einen Nullprozentjoghurt aus der Kühltheke und bewegt seinen massigen Körper langsam in Richtung Kasse. Markus hat ein paar Kilo zu viel auf den Knochen, und deswegen möchte er runter von seinem Übergewicht. "Ich habe einen Traum: In sechs Monaten möchte ich 40 Kilo abnehmen", erzählt er mit leuchtenden Augen. "Wenn ich das schaffe, hol ich mir die 500 Euro vom Staat."
Es ist ein hehres Ziel, das der Gymnasiast damit ansteuert, denn wenn er es schafft, hat er nicht nur sich, sondern auch Deutschland geholfen. Die Bundesregierung hat ein innovatives Instrument zur Verbesserung der Volksgesundheit und zur Stützung der Konjunktur geschaffen. Wer nachweislich so viel abnimmt, dass er nach der Hungerkur zwei Konfektionsgrößen kleinere Kleidung braucht, bekommt 500 Euro Abspeckprämie. Selbstverständlich muss der Gewichtsverlust von einem Amtsarzt der Gesundheitsbehörde festgestellt und beglaubigt werden. Und ausbezahlt wird das Geld auch nur, wenn der Kauf neuer Kleidung und die Abgabe der alten bei einer staatlichen Kleidersammelstelle nachgewiesen werden kann.
Dass ein derart ambitioniertes Programm nicht nur Befürworter hat, sondern auch Nörgler und Neider auf den Plan ruft, ist nicht weiter verwunderlich. Und tatsächlich gibt es gewichtige Gründe gegen die staatlicherseits angeschobene Volksdiät. Denn der Stützung des Oberbekleidung-Einzelhandels sowie der Diätmittelhersteller stehen unabweisbare Nachteile für andere Branchen entgegen. Schon jetzt, nur wenige Wochen nach Einführung der Abspeckprämie, zeichnet sich ein dramatischer Umsatzeinbruch in der Süßwarenbranche ab: Ferrero, Nestlé und Haribo meldeten Kurzarbeit an, Suchard hat die Osterhasenproduktion komplett eingestellt, Cafés und Konditoreien bleiben auf ihren handwerklich produzierten Köstlichkeiten sitzen.
"Es kann doch nicht angehen, dass der Staat einen Rettungsschirm für die einen aufspannt und die anderen im Regen stehen lässt", moniert Eduard Glück vom Dachverband der zuckerverarbeitenden Industrie die seiner Ansicht nach einseitige Subventionspolitik der Bundesregierung. Die wiederum hält dagegen, dass das Volkswohl ein höheres Gut sei und die Süßwarenbranche sich durch das gut gelaufene Weihnachtsgeschäft sowieso einen komfortablen finanziellen "Speckgürtel" erwirtschaftet habe. "Jetzt müssen Sie eben auch mal etwas den Gürtel enger schnallen!", schreibt denn auch Bundeskanzlerin Angela Merkel den erfolgsverwöhnten Zuckermultis in ungewohnt deutlichen Worten ins Stammbuch.
Markus Gassner ficht das politische Hickhack in der fernen Bundeshauptstadt sowieso nicht an. Der 120-Kilo-Mann aus dem Münchner Süden hat andere Sorgen: Zuerst verschenkte er seine Notration Gummibärchen. Dann musste er sein "Startgewicht" im Gesundheitsamt feststellen lassen, und jetzt konzentriert er sich voll auf das Abnehmen. Kalorientabellen, Brennwertdiagramme und Body Mass Index - klar, dass angesichts derlei höherer Diätmathematik kaum mehr Zeit für die Schule bleibt. Doch wenn er sich zwischen lebensfernem Lehrstoff und Abnehmen entscheiden muss, überwiegt ganz klar die Aussicht auf die fette Prämie. Auf die Frage, was er mit dem Geld anzufangen gedenke, wird Markus allerdings recht einsilbig. Erst nach mehrmaligem Nachfragen bekennt er mit träumerischer Stimme, dass sein erster Gang ihn wohl erstmal ins Café Kustermann führen werde. Dort will er dann bei einem oder mehreren Stück Käsesahnetorte gebührend seinen Sieg feiern.
Menschlich-allzumenschlich, genauso wie ein ganz anderes Problem, das allerdings weitaus gravierendere Konsequenzen nach sich zieht: Bestechung. Böse Zungen sprechen nämlich von einem nicht unbeträchtlichen Betrugsrisiko, das die hochgesteckten Ziele der Regierung allzu leicht konterkarieren könnte. Experten verweisen auf den "Fall" des Amtsarztes Dr. Egon Brauner aus Dinkelsbühl, der es mit der amtlichen Feststellung des Abnahmeerfolgs wohl nicht immer so genau genommen habe. Nach Auskunft glaubwürdiger Quellen stellte er reihenweise Gefälligkeitsgutachten aus, die er sich bezahlen ließ - jedes mit einer Großpackung Mon Chérie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung