die wahrheit: Das Tier des Jahres
Erst jetzt gewählt und doch schon seit Jahrhunderten bekannt: das Elendtier.
Das Tier des Jahres ist ein Tier geworden, das schon alle abgeschrieben hatten: das Elendtier, auch kurz Elend. Schon Georg Andreas Helwig mutmaßt 1718, dass es den "Nahmen Elend, d. i. jämmerlich, solle bekommen haben", weil es von der "fallenden Sucht" öfters befallen werde. Dieser Umstand und der Name des Tieres prädestinierten das unselige Tier, zum Tier des Jahres ausgerufen zu werden, in einer Zeit, da uns allen die Fallsucht der Aktienkurse und der tiefe Fall ganzer Bankhäuser übel zusetzen.
Ähnlich hässlich wie die Lage der Finanzen, wird das Aussehen des Elendtiers beschrieben: Das "scheue und dumme Tier" ist mit seiner "aufgeschwollenen knorpeligen Schnauze und einem hängenden, 7 Zoll langen Beutel unter der Kehle" (Piersches Universal-Lexikon, 1854) nun wirklich keine Schönheit. Zur äußerlichen Missgestalt kommt noch seine anatomische Unzulänglichkeit: Plinius berichtete bereits, dass das Elendtier "keine Gelenke an den Beinen habe, weswegen es sich nicht hinlege, sondern zum Schlafen an einen Baum lehne. Wolle man es fangen, so sägt man den Baum ab." Steht unsere Weltwirtschaft nicht auf ähnlich tönernen Füßen?
Wenig verwunderlich bei der mangelhaften Standfestigkeit des Elendtieres, dass der letzte Vertreter seiner Art in Mitteleuropa im Jahr 1570 in Böhmen erlegt wurde. Fürderhin zog sich das Elend nach Polen und Skandinavien zurück und wartete dort auf seine Stunde.
"Der plumpe Pferdeschädel mit der ungeheuerlichen Ramsnase, die kleinen tückisch blinzelnden Schweinsaugen, die schlotternde weichledrige Oberlippe, die ständig spielenden Eselsohren, die hässliche Halswamme … und das winzige Stummelschwänzchen", so beschreibt der Publizist Kurt Floericke keineswegs einen fiesen Börsenspekulanten aus dem Bankensumpf, sondern das verachtete Elendtier, das heute wieder unruhig in seinen fernen Feuchtgebieten das Haupt erhebt. Noch steht es in Südpolen und streunt vereinzelt durch unsere östlichen Provinzen. Aber es richtet seine Nüstern schon gen Frankfurt am Main und nimmt die Witterung des Geldes auf.
Und wehe euch Elenden, wenn es erst in die Bankenviertel einzieht, dann wird Heulen und Zähneklappern sein!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!