die wahrheit: Das Geschwule von Canterbury
Canterbury ist schwul genug. Das hat eine Regierungsbehörde festgestellt, nachdem sie die historische englische Stadt zwei Monate lang begutachtet hat ...
Canterbury ist schwul genug. Das hat eine Regierungsbehörde festgestellt, nachdem sie die historische englische Stadt zwei Monate lang begutachtet hat. Die Stadtverwaltung musste unter anderem beweisen, dass genügend Theaterstücke und Musicals in den örtlichen Häusern aufgeführt werden, die "von Interesse für die LGBT-Gemeinde" seien. Die Abkürzung klingt zwar wie ein BLT-Sandwich, hat aber nichts mit "Bacon, Lettuce, Tomato" zu tun, sondern bedeutet "Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender".
Ausgelöst wurde die Untersuchung durch eine Beschwerde der Organisation "Pride in Canterbury", die moniert hatte, dass es keinen Homosexuellentreffpunkt in der Stadt gebe. Der Sprecher der Gruppe, der 60-jährige Andrew Brettell, sagte: "Ich glaube, die halten sich für besonders kostbar, weil sie eine Kathedrale und viel Geschichte haben. Die glauben wohl, die Schwulen und Lesben würden ihre Stadt in Sodom und Gomorrha verwandeln." Es sei nicht Aufgabe einer Stadtverwaltung, eine Schwulenbar zu eröffnen, sagte Rob Davies, der Sprecher der Stadt. "So etwas tun Verwaltungen nicht. Aber voriges Jahr gab es im Rathaus einen Tag der offenen Tür für Schwule und Lesben. Es kamen mehr als 40 Leute, und die waren alle begeistert." Gilt eine Rathausbesichtigung in Canterbury tatsächlich als Freizeitvergnügen?
Das britische Finanzamt hat sogar eine Broschüre für "unsere LGBT-Kundschaft" herausgebracht. Sie enthält zum Beispiel den wertvollen Hinweis, dass ein Mann, dem die Rente mit 65 zusteht, sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen und so bereits mit 60 in den Ruhestand gehen könne. Matthew Elliott vom Verband der Steuerzahler bezeichnete die 1.500 Pfund, die der Druck der Broschüre gekostet hat, als Geldverschwendung. "Die Leute im Finanzamt sollen zählen können und unsere Daten hüten - alles andere ist Humbug", sagte Elliott.
Das Geld für die Broschüre ist freilich ein Pappenstiel im Vergleich zu den 50 Millionen Pfund, die von den Gemeinden jedes Jahr für Übersetzungen von Dokumenten ausgegeben werden, die kein Mensch liest. Der Leitfaden für Frauen von der Nord-Londoner Verwaltung Haringey, der in Albanisch, Bengalisch, Kurdisch, Somalisch und in Urdu im Internet steht, wurde kein einziges Mal aufgerufen - ebenso wenig wie das Verzeichnis für ungarische Roma auf Polnisch und der LGBT-Ratgeber auf Französisch.
Aber auch Sprachen, die nur von einer winzigen Minderheit gesprochen werden, fanden bei der Übersetzung der Broschüren Berücksichtigung: das sinotibetische Karenisch, das in Ostburma gesprochen wird, die Kwa-Sprache Ga aus Ghana und das Krio, das von einer Handvoll Leuten in Sierra-Leone gesprochen wird. Dabei hatte Hazel Blears, die Anfang des Monats als Gemeindeministerin zurückgetreten ist, angeordnet, gar nichts mehr zu übersetzen, damit die Immigranten endlich Englisch lernen. Vielleicht funktioniert diese Taktik ja auch in Canterbury: Wenn sie keinen Treffpunkt haben, lernen die Homos vielleicht Heterosexualität.
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