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die wahrheitDer Tennisspieler, der schwitzte

Es ist immer das Gleiche: Am zweiten Freitag des Wimbledon-Tennisturniers scheidet der britische Teilnehmer aus. Tim Henman ist...

... "viermal den Berg der Größe hinaufmarschiert und wieder heruntergeschickt" worden, wie es der Guardian poetisch ausdrückte. Sein Nachfolger Andy Murray machte es ihm am vorigen Freitag nach.

Dabei sollte dieses Jahr alles anders werden. Seit 71 Jahren hat kein britischer Spieler mehr das Finale im Wimbledon erreicht, geschweige denn gewonnen. Der Schotte sollte es richten, er war haushoher Favorit gegen den US-Amerikaner Andy Roddick. Wenn man den Satz "Murray ist im Begriff, Geschichte zu schreiben" auf Englisch bei Google eingab, bekam man 202.000 Treffer. In Murrays Heimatort Dunblane, bisher nur bekannt für das Massaker von 1996, bei dem 16 Kinder und ein Erwachsener von einem Amokläufer erschossen wurden, waren sämtliche Geschäfte und Wirtshäuser mit Fahnen und Murray-Postern geschmückt, der Fleischer verkaufte Murray-Burger, im Hotel gab es "Wimbledon-Erdbeeren". Der Tennisspieler wurde mit Braveheart verglichen, der ebenfalls in der Gegend um Dunblane zu Hause war. Als Murray sich nach dem Achtelfinale beklagte, er habe geschwitzt, weil das neue 100 Millionen Pfund teure Dach den Centre Court in ein türkisches Bad verwandelt habe, stöhnte die Nation auf: "Er hat geschwitzt!" Manche forderten, das Dach fortan nicht mehr zu schließen, andere wollten es gar abreißen. Auch die Queen schickte Murray aufmunternde Worte, ebenso wie Kate Winslet, Sean Connery und Cliff Richard - und am Abend vor dem Spiel auch noch David Beckham, das Kommissbrot unter den Fußballern. So mancher Warmbier trinkende Fan ging nach dem Zapfenstreich Donnerstagnacht um halb zwölf schnurstracks vom Wirtshaus zum Tennisstadion, um am nächsten Tag noch ein Ticket zu ergattern.

"Ein Murray-Triumph wäre ein authentisches nationales Ereignis, eine sportliche Katharsis, das Tilgen einer Schande in einer weiteren Sportart, die die Briten der Welt geschenkt zu haben glauben", fabulierte der Guardian. Das Blatt schrieb ominös, Murray werde vor dem Spiel 30 Sekunden lang unter der Tafel mit dem Vereinsmotto stehen, das ein paar Zeilen aus Rudyard Kiplings Gedicht "Wenn" enthalte: "Wenn du begegnend Unglück und Triumphe / Die zwei Betrüger gleicherweis verlachst …"

Am Ende lachte Roddick, und es kam einem ein anderes Kipling-Zitat in den Sinn: "Wir haben 40 Millionen Gründe für das Versagen, aber nicht eine einzige Entschuldigung." Wenigstens die Buchmacher waren erleichtert. Hätte Murray gewonnen, hätten sie rund 10 Millionen Pfund auszahlen müssen. Bei keinem Sportler hatten die britischen Wettfreunde bisher mehr Geld eingebüßt als bei Wetten auf Tim Henman, der inzwischen klugerweise auf Golf umgestiegen ist.

Nun hält Murray diesen Rekord. Dennoch ist er bei den Buchmachern mit einer Quote von 5:2 Favorit für den Wimbledon-Sieg. Allerdings erst 2010. Das gestrige Finale interessierte niemanden mehr.

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