die wahrheit: Das fränkische Folterkreuz
Als Wahlberliner denkt man oft, man hätte schon alles erlebt, wohnt man doch in der größtmöglichen Ansammlung von Schrägheiten. Kaum etwas kommt einem noch...
... fremd vor, so viele Mentalitäten tummeln sich um einen. Doch da irrt der Großstädter. Das merkt er, wenn er in seine längst hinter sich gelassene provinzielle Heimat fährt und dort mit tatsächlich ganz anderen Lebensweisen konfrontiert wird. So erging es auch mir beim letzten Besuch.
Dort auf dem Lande hat etwa die Kirche noch einen weitaus größeren Einfluss auf die Menschen. Das zeigt sich nicht nur daran, dass der Pfarrer alle Geburtstagskinder über 70 jedes Jahr aufs Neue persönlich heimsucht, nein, es sollen von einigen Gemeindemitgliedern sogar Strichlisten darüber geführt werden, wer wie oft auf den Friedhof geht, um zu trauern oder Grabpflege zu betreiben. Für die Menschen hier fällt das wohl unter den Punkt Nächstenliebe. Genau wie die merkwürdige Eigenart, das Treiben der Nachbarn vom Fenster aus zu beobachten, so dass einem nie entgeht, wenn der Heiner wieder in den Wald fährt. Sofort wird spekuliert: Was macht der da, wann kommt er wieder und wieso ist die Dingsbums nicht dabei? Diese rege Anteilnahme wirkt auf einen Bewohner eines Berliner Mietshauses, der mehr als die Hälfte seiner Nachbarn noch nie gesehen, geschweige denn mit ihnen gesprochen hat, doch sehr seltsam. Trotzdem lässt man das als eine gewisse Schrulligkeit der Landbevölkerung durchgehen.
Doch nun scheint es vollends um die Leute in meiner oberfränkischen Heimat geschehen. Die Kirche hat kürzlich auf dem höchsten und schönsten Punkt im Dorf ein massives baumhohes Holzkreuz aufgestellt. An diesem regelrecht idyllischen Ort, wo man bei einem Anflug von Romantik herrliche Sonnenuntergänge über dem Frankenwald genießen konnte, denkt man nun wegen dieses zig Meter hohen Ungetüms sofort an brutale Kreuzigungsszenen - und daran, wie sich ein gewisser Jesus an dem Riesenteil totgeschleppt hätte. Wozu das Kreuz wirklich dienen soll, konnte mir keiner im Ort sagen. Wohl aber, dass direkt vor der Kirche weitere kleinere Kreuze gesehen worden seien. Die sind wahrscheinlich für Kinderkreuzigungen oder als Abschreckung für gottesdienstschwänzende Konfirmanden gedacht.
Warum muss die Kirche hier so dreist ihr Revier markieren? Da juckt es einem gleich in den Fingern. In meiner jugendlichen, heißen Atheistenphase hätte ich wohl ein riesiges Pfarrerimitat daran gekreuzigt oder das Ding einfach abgefackelt. Heute würde ich am liebsten als Zeichen der Religionsfreiheit einen gigantischen erigierten Mittelfinger danebenstellen. Das ist wohl eine Nebenwirkung der großstädtischen Toleranz. Einer Toleranz, mit der die Kirchen der Region kaum gesegnet sind. Denn nachdem ich hier alle Geheimnisse dieses christenbesessenen Ortes offenbart habe, bin ich froh, dass seine Bewohner solche gottlosen großstädtischen Zeitungen nicht lesen. Sonst wäre ich wohl der Erste, an dem sie ihr neues schönes Folterkreuz ausprobieren würden.
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