die wahrheit: Der homosexuelle Mann
Der homosexuelle Mann hieß nicht immer so. Mitte des 19. Jahrhunderts nannte ihn der Jurist Karl Heinrich Ulrichs "Urning", ...
... alle zuvor gebräuchlichen Begriffe für die "Enterbten des Liebesglückes" klangen ihm zu negativ. Doch konnte Ulrichs sich nicht durchsetzen, nur wenige Jahre später sprach der österreichisch-ungarische Schriftsteller Karl Maria Kertbeny zum ersten Mal von "Homosexualität" und von "Homosexuellen". Auch die "Heterosexuellen" erfand Kertbeny ebenso wie die "Monosexuellen" und - für die Anhänger des Analverkehrs - die "Pygisten".
Das ist lange her, seitdem reißt die Liste der Wortschöpfungen nicht ab: "Gleichgeschlechtliche" und "Invertierte", "das dritte Geschlecht" und "Andersartige", "Gleichfühlende" und "griechische Neigung" - allein der Spiegel kommt in seinen Ausgaben von 1950 bis 1973 auf 24 verschiedene Bezeichnungen: Jede Zeit braucht offensichtlich ihre eigene Definition. Die "Schwulen" als Selbstbezichtigung gibt es erst seit Anfang der Siebzigerjahre, davor sprachen sie lieber über sich als "Homosexuelle" oder - sehr gern genommen - "Homophile" oder "Homoeroten". Bis nach 1968 im Zuge der Studentenrevolte die Schwulenbewegung auf den Plan trat und ihre Aktivisten sich nicht mehr länger dem zuvor als Schimpfwort gebräuchlichen "schwul" beugen wollten. Seitdem nennen sie sich selbst so und jede Beleidigung verfehlt ihr Ziel.
Aber nicht alle Schwulen wollten "schwul" heißen, die Vorsichtigen übernahmen aus dem Amerikanischen das kurze "gay", das poppig klang und modern und im deutschen Sprachgebrauch - und darauf kam es an - nicht sofort seinen Sinn erkennen ließ. Das hat sich im Laufe von drei Jahrzehnten deutlich geändert, "gay" versteht heute ein jeder, und "schwul" benutzt man ganz selbstverständlich in der "Tagesschau" ebenso wie im Bundestag. Also Zeit, wieder auf etwas Neues zu kommen: "Queer" heißt es seitdem unter Schwulen oder "transgender", und meint man alle zusammen, die sich heute als eine Gemeinde verstehen, spricht man von LGBT - "lesbian, gay, bisexual, transgender".
Nur einer will von alledem nichts wissen. Bundesaußenminister und Vizekanzler Guido Westerwelle führte unlängst in einem Spiegel-Gespräch beharrlich vor, wie er sich zu positionieren beliebt: als "ein Mann der mit einem Mann zusammenlebt". Nein, nicht "schwul" und nicht "gay", nicht "homosexuell" und nicht "queer" - um den damit verbundenen Konnotationen zu entgehen, ist Guido Westerwelle lediglich ein Mann, der mit einem Mann zusammenlebt. Da ist kein Platz mehr für all die sexuellen Fantasien, die ansonsten heterosexuelle Zuhörer überfällt, sobald man von "schwul" spricht oder von "homosexuell".
"Herr Westerwelle ist so, wie er ist, den werden wir auch nicht mehr ändern", meinte dazu Klaus Wowereit im Interview mit dem Schwulenmagazin Männer. Guido Westerwelle ist seiner Zeit damit weit hinterher oder - wenn der Homosexuellen Bestreben nach einem schwulen Biedermeier so anhält wie derzeit - dann doch weit voraus.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart