die wahrheit: Im Jahr des Tigers
Designermuschi zeigen
Normalerweise ist dem Straßenbild in China nicht anzumerken, ob es sich um einen Werk-, Sonn- oder Feiertag handelt. Die Geschäfte haben täglich geöffnet. Nur in der ersten Woche der chinesischen Neujahrsfeierlichkeiten sind die Straßen wie leergefegt und alle Läden geschlossen. Ich habe diese Zeit genutzt, um in meiner aus Deutschland mitgeschleppten China-Literatur zu lesen.
Besonders angetan hatte es mir ein Buch, das 1973 im maoistischen Oberbaumverlag erschienen war und das ich im hervorragenden Roten Antiquariat in der Berliner Rungestraße erworben hatte: "China: Im Vertrauen auf die eigene Kraft. Reisebericht einer Genossin". Diese Genossin trug den schönen Namen Jenny Schon.
Ich lese solche Bücher mit besonderem Interesse. Ich hoffe durch sie zu erfahren, was mich als Fünfzehnjährigen am Maoismus so faszinierte. Tatsächlich findet man dazu einiges in dem Buch. Es ist gespickt mit Produktionsziffern, die beweisen, dass es im China Maos nur aufwärts- oder vorwärtsgeht. Ähnliches las ich als Jugendlicher in diversen maoistischen Blättern, und das hatte mich schließlich überzeugt.
Ich frage mich allerdings, ob ich auch schon damals bei der Lektüre so viel gelacht hätte. So gefiel der Genossin Schon auf ihrer Reise durch das maoistische China ganz ernsthaft am besten, dass man beziehungsweise frau in Toiletten ohne Trennwände kollektiv in ein Loch im Boden uriniert. "Diese Art zu pinkeln, fand ich sehr angenehm - es hat etwas von der Isolation genommen, in der man als Ausländer ja doch steckt."
Ich hoffe auch, dass ich mich über ihren unbedingten Glauben an die Sicherheit chinesischer Flugzeuge amüsiert hätte, "weil ich den chinesischen Piloten - im Gegensatz zu unseren - die menschliche Verantwortung zuspreche, die jeder Flug erneut verlangt." Ich bin mir aber nicht ganz sicher. Wer kann schon für sich selbst als Jugendlicher garantieren?
Ich fragte mich bei der Lektüre auch, was wohl Frau Schon heute macht. Wir deutschen Maoisten gingen ja oft erstaunliche Lebenswege. Genosse Alan Posener wurde Redakteur bei Springers Welt, Genosse Bernd Ziesemer ist Chefredakteur des Handelsblatts, Genosse Joscha Schmierer landete eine Zeit lang im Planungsstab des Auswärtigen Amts und Genosse Horst Mahler am Ende bei den Nazis.
So schlimm ist es mit Genossin Schon nicht gekommen. Auf ihrer Homepage kann man lesen, dass sie immer noch Bücher verfasst, allerdings nicht mehr über China, sondern über ihre Vertreibung "im Kinderwagen" aus dem "Sudetenland".
Leider schreibt sie jetzt auch Gedichte, zum Beispiel dieses hier mit dem Titel "Designermuschi" zum "Internationalen Tag der Frau" (Auszug): "Und auch das Klavier schweigt / Als sie ihre Muschi zeigt / Von vorn und inmitten / Da kreuzt auf dem Steg / Ein 40-Pfund-Model ihren Weg / Du bist ja auch beschnitten / Ach mein Silikon / Ist schon lange auf und davon."
Betrachte ich dieses Gedicht und die Lebenswege vieler deutscher Mit-Maoisten, kann ich nur sagen: Ich habe unverschämtes Glück gehabt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland