die wahrheit: Entmenschte Fratzen
Verkehrsreport: Im Ausbildungszentrum der Deutschen Bahn AG
"Alle mal herhören, Frolleinchen, Mädels", dröhnt die sonore Stimme von Hauptausbilder Knuffstein durch den Seminarraum. Eigentlich heißt das jetzt ja "Coaching Manager", aber bei diesem neumodischen Ami-Zeugs stellt Knuffstein die Ohren prinzipiell auf Durchzug. Hauptausbilder bei der Bundesdeutschen Reichsbahn AG - oder wie die schwulen Koksnasen da oben seine geliebte Bahn inzwischen nennen - wird man nämlich nicht mal eben so im Schweinsgalopp.
Die Auszubildenden im Zugbegleiterinnenseminar haben wenigstens noch Respekt: In den Pausen nennen sie ihn zwar schon mal kichernd "Knuffi" und sprechen sich gegenseitig mit "Mädel Müller" oder "Frolleinchen Funke" an, aber das bekommt Meister Knuffstein ja nicht mit. Außerdem ist es doch bloß nett gemeint - manche sind sogar fast ein bisschen verknallt in den braungebrannten Lehrer mit den grau melierten Schläfen.
"Alle mal herhören, Mädels, Frolleinchen: Legen Sie jetzt einfach mal die Bleistifte beiseite und hören mir ganz genau zu - jetzt kommt nämlich was absolut Wichtiges!" Knuffstein begibt sich in die Ecke des Lehrraums zum Kartenständer und zieht eine Schautafel auf. Sie zeigt die Karikatur eines buckligen Mannes, der einen Koffer in der linken Hand hält und in der rechten eine Flasche Schnaps. Aus der geöffneten, mehrfach geflickten Jacke sieht man deutlich den Griff eines Messers ragen. Sein verwarztes Gesicht mit der riesigen Nase ist zu einer scheußlichen Fratze verzerrt. Die verfaulten Zähne gebleckt, läuft ihm aus den Mundwinkeln giftgrünlicher Speichel.
"Der Fahrgast", sagt Knuffstein, während ein paar der Auszubildenden vor Entsetzen aufschreien. Die Funke fällt mal wieder in Ohnmacht - sie dürfte die lange und harte Ausbildung wohl kaum durchstehen. Vier Kolleginnen tragen sie in den Aufwachraum. "Ganz wichtige Grundregel", fährt Knuffstein unbeirrt fort.
Er kann sich nun immerhin sicher sein, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fallen: "Niemals das Fahrgastgeschmeiß anlächeln oder sich sonst wie anbiedern. Auf keinen Fall und egal, was kommt - die würden das sofort als Aufforderung missverstehen, dass das alles hier ganz locker ist bei uns. Wenn man denen auch nur den kleinen Finger gibt, reißen sie einem in null Komma nichts den ganzen Arm ab. Wissen Sie, wie höllisch weh das tut? Und danach tanzen sie auf den Tischen und grölen - grässlich ist das!"
Der Ausbilder bittet diejenigen Damen, die in der Nähe des Fensters sitzen, sie zu verdunkeln. Anschließend führt er einen Lehrfilm vor, in Super 8: In der ersten Einstellung gleitet ein ICE durch blühende Wiesen. Klaviermusik ertönt. Die Sonne scheint, in der Ferne sieht man eine alte Windmühle.
Schnitt. Im Wagen. Eine Zugbegleiterin steht am Platz eines Fahrgasts und bittet ihn um den Fahrschein. Als sie das Ticket zurückgibt, lächelt sie und sagt: "Gute Reise." Das Bild wird kurz eingefroren, es ertönen die ersten Klänge von "Spiel mir das Lied vom Tod".
Zwei der Lehrlinge wippen vorsichtig im Takt der Musik, doch ein scharfes Zischen von Knuffstein bringt sie augenblicklich zur Räson. Selbst im Dunkeln sieht der Alte wie ein Luchs. Rot glühen die Ohren der Zurechtgewiesenen.
Schnitt. Erneut Totale. Der Zug rast durch eine Wüste, die meisten Wagenfenster sind zerschlagen, auch außen lösen sich immer größere Teile. In Nahaufnahme züngelt ein giftiger Waran an einer verbeulten Tür mit der Wagennummer 13. Schleppender Doom Metal unterlegt die Sequenz.
Schnitt. Im Wagen. Es ist duster. Entmenschte Fahrgäste fletschen heiser brüllend die Zähne. Wiederholt furzt einer sprudelnd braune Fontänen aus, die an die wenigen noch intakten Scheiben klatschen. Panisch kreischen die Auszubildenden. Unter Hohngebrüll wird die nackte Zugbegleiterin durch die Gänge getrieben. Beide Arme sind abgerissen, sie blutet stark aus den Stümpfen. Eines der Monster hat sich ihre Dienstmütze aufgesetzt und betrachtet sich blöde grinsend in ihrem Schminkspiegel, ein anderes kaut an den Resten ihrer Uniform. Ein Glück, dass die kleine Funke schon ohnmächtig ist, sonst wäre sie spätestens jetzt vor Angst gestorben.
Der Film ist zu Ende. Auf Bitten des Ausbilders werden die Jalousien wieder hochgezogen. Draußen scheint die Sonne, doch niemand lacht. Die Stimmung ist gedrückt. Knuffstein weiß, dass er nichts mehr sagen muss - sie alle haben ihre Lektion gelernt. Dann ist Pause, doch auch im Gang zu den Toiletten, wo die Aschenbecher stehen, will kein rechtes Gespräch mehr aufkommen. Innerhalb von zehn Minuten ist aus dieser bunten Gruppe fröhlicher junger Frauen eine straffe Kompanie ernsthafter Zugbegleiterinnen geworden.
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