die wahrheit: Fundstücke im Zeitstrudel
Auf die Gefahr hin, als Schmachthaken im elfenbeinernen Halbbildungsbürgerturm zu gelten, biete ich eine Quizfrage an. Schon recht, das Rätsel ist läppisch, ...
... allein da heutzutage nichts leichter ist, als den Namen des Autors zu googlen. Dennoch: Wer wars? "Alles aber, mein Theuerster, ist jetzt ultra, alles transcendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Thun. Niemand kennt sich mehr, Niemand begreift das Element worin er schwebt und wirkt, Niemand den Stoff, den er bearbeitet."
Dass bereits im Jahre 1825 alles ultra ist, halte ich für voll krass. Und dem, dass sich alles unaufhaltsam transzendiert, würde ich gleichfalls zustimmen, sobald ich wüsste, was transzendieren präzise bedeutet. Aber egal, sagte die Maus und biss den Faden ab.
Goethe also schreibt in dem Brief an Zelter vom 6. Juni - genau an diesem Tag 185 Jahre später juckelte ich auf meinem Moped bis Aalen, nach Aachen die nächste Ortschaft ansteuernd, das ABC der Städte abzuarbeiten -, in demselben Brief nun schreibt Goethe weiter: "Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichthum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt."
Auch diese Betrachtung dürfte ein gegenwärtiges Unbehagen aufrufen und man wird nicht der Erste sein, der das anmerkt. Jetzt aber kommts janz dicke: "Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communication sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren … Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die letzten seyn einer Epoche die so bald nicht wiederkehrt."
Auf den Brief bin ich gestoßen in einem echten, dreidimensionalen Buch, nämlich in einer Biografie über Walter Benjamin. Dank der Digitalisierung wiederum gelang es, ohne Umschweife auf den "Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter" zuzugreifen, bar des Risikos einer Fälschung, dem weiland Fritz "Ojottojott" Raddatz anheimfiel. Gedankenleer eine Satire als seriöse Quelle verwendend zitierte er "Goethe": "Man begann damals das Gebiet hinter dem Bahnhof zu verändern. Die alten Schreberhäuslein wurden niedergelegt …" Weder einen Bahnhof noch irgendwelche Schreberhäuslein vermochte man seinerzeit zu erspähen.
Ebenso komisch nimmt sich ein anderes Fundstück aus. Jenen Brief schneidet eine Broschüre an, in der sich Horrorwörter des dämonischen Zeitgeistes ballen: "Work-Life-Balance - Wie Sie Lebensqualität steigern und burnout vermeiden."
Da also niemand den Stoff begreift, den er bearbeitet, wendet all dies das Augenmerk immerhin auf die Fascilitäten der Communication wie auch auf den ultra transzendierenden Zeitstrudel, der uns, kokett verharrend in der eigenen Mittelmäßigkeit, in der Kiste der unsinnigen Haiku kramen lässt, um in siebzehn Silben den Schluss abzupflocken: "Unschwer führt man ein / schweres Leben. Vielleicht viel / leichter ein leichtes."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!