die wahrheit: Fischfrikadellen für den Klabautermann
Viele Jahre war jeder in meiner Familie davon überzeugt, dass ich keinen Schutzengel besaß. Wo immer ich in meinen Strampelhosen herumkrabbelte, drohten...
... Unfälle und Katastrophen: Fiel plötzlich ein Bild von der Wand oder ein Nudelholz vom Küchentisch, war ich es, der davon mit fataler Zielsicherheit getroffen wurde, und so lag ich ständig bewusstlos und mit einer Riesenbeule am Hinterkopf auf dem Fußboden herum.
Auch beim Essen wurde mir von Freund Hein stets das Lätzchen umgebunden: Ich schaffte es als Einziger in der Familie, nach dem Verzehr eines Wildpilzragouts von Vergiftungserscheinungen gepeinigt zu werden, und wenn es zum Mittagessen Fischstäbchen gab, steckte mir aus unerfindlichen Gründen plötzlich trotzdem eine Riesengräte im Schlund, so dass ich wieder einmal im Eiltempo in die Notfallambulanz transportiert werden musste, um vor einer vorzeitigen Fährfahrt über den Jordan bewahrt zu werden. Fest stand, dass ich auf keinerlei Schutz von oben bauen konnte, und insbesondere meine Oma grämte sich darüber unaufhörlich, wurde man ihrer Erfahrung nach doch mindestens einmal im Leben von einem Weltkrieg, einem Hungerwinter oder einer Sturmflut nebst Deichbruch heimgesucht, was niemand ohne Schutzengel überlebte.
Infolgedessen herrschte ausgelassene Feierlaune in unserem Haus, als ich im Alter von fünf Jahren vom Balkon fiel: Kein Mensch weiß, wie ich es fertigbrachte, eben noch hatte ich meine Matchboxautos über den Balkonfußboden rattern lassen, doch mit einem Mal war ich zwei Stockwerke tief hinuntergesegelt. Indes, nicht zu fassen: Ich blieb unverletzt! Die Familie jubilierte, denn das schien allen der Beweis zu sein, dass es doch einen Schutzengel gab, der mich vor dem gröbsten Unheil bewahrte. Nur meine Oma glaubte immer noch nicht daran, radelte wie jeden Abend zum Deich und warf drei selbstgemachte Fischfrikadellen in die Nordsee, um den Klabautermann zu bitten, sich ihres Enkels an Schutzengels statt anzunehmen und ihn vor Riesenwellen und anderen lebensgefährlichen Bedrohungen zu bewahren.
Tatsächlich stoßen mir bis heute immer wieder die erstaunlichsten Unglücke zu. Mal kippt ein seit Jahren bombenfest in der Wand verdübeltes Bücherregal ausgerechnet dann nach vorn, wenn ich davor stehe; mal setzt ein unerklärlicher Kurzschluss in der Hauselektrik den Knauf der Eingangstür just in dem Moment unter Strom, in dem ich vom Einkaufen nach Hause komme. Dafür sprang ich dem Teufel erst neulich wieder wie durch ein Wunder von der Schippe, denn immerhin wurde ich beim Fahrradputzen hinten im Hof von einem Müllwagen überrollt, der unversehens führungslos die Einfahrt heruntersauste: Doch während die Müllmänner ungläubig staunten, als ich - leicht benommen, doch quietschfidel - unter dem Laster hervorkrabbelte, kroch mir auf einmal der Geruch hausgemachter Fischfrikadellen in die Nase, und damit wusste ich endlich, wem ich es zu verdanken habe, dass ich noch immer im Diesseits herumspazieren darf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!