die wahrheit: Ein verrückter alter Mann geht einkaufen
Zunächst fühlte sich der verrückte alte Mann zu schwach zum Einkaufen. Es war nicht recht, dass das Leben Derartiges von ihm verlangte; es kam ihm vor,...
... als würden seine religiösen Gefühle verletzt, wenn er irgend etwas tun sollte. Doch führte kein Weg daran vorbei, denn alle Lebensmittel waren restlos verbraucht, und der verrückte alte Mann beugte sich dem Terror der Naturgesetze.
Nun galt es, das Haus zu verlassen und draußen, in der realen Welt, stark einzukaufen. Der verrückte alte Mann beschloss, so stark einzukaufen, dass sich das Universum wundern sollte. Allein diesem Vorsatz verdankte er die Kraft, die nötig war, sich der verheerenden Wirkung der Realitätsstrahlen auszusetzen. Fast fühlte er sich dabei wie der irre Engel auf dem Felde bei den Rehen, falls es so etwas gab. Der Weg setzte sich von allein fort, bald würde die Stadt entstehen, die so vielfältige gut vorbereitete Gefahren bereithielt. Der verrückte alte Mann hätte es beruhigend gefunden, ein ambulantes Kleinklavier an seiner Seite zu wissen oder wenigstens eine Resopalplatte als organisches Gebilde. Die Einkaufstasche spendete ihm nicht ausreichend Trost, doch nun war es zu spät, sich um dergleichen zu kümmern.
Unterwegs sprach ihn eine Frau an, die noch viel älter und verrückter war als er selbst. "Sie sind aber elegant gekleidet", sagte sie zu ihm, "wollen Sie zur Sparkasse?" Der verrückte alte Mann erwiderte: "Ich habe eine schöne Seele und werde stark einkaufen." - "Gehen Sie zur Sparkasse", riet ihm die alte Frau, "da haben sie dauernd neue Frauen, immer bessere, auch ganz junge." Eine junge Passantin mit quäkender Stimme hörte das beiläufig mit, fand die Aussage frauenfeindlich und schlug die verrückte alte Frau nieder. Der verrückte alte Mann floh ins Stadtzentrum.
Indem er alle Vorbehalte gegen das Einkaufenmüssen aufgab, rief der verrückte alte Mann: "Nun bin ich hier, nun werde ich stark einkaufen!" Doch hatte sich die Einkaufslandschaft seit dem letzten Mal verändert. Die meisten Geschäftslokale standen leer, Brot wurde nicht mehr hergestellt (wie in "Die falsche Seite des Brotes" mit Martha Argerich).
Der verrückte alte Mann inspizierte die Auslagen des Feinkostgeschäfts: Obst in verlockenden Grautönen (man konnte, wenn man ganz genau hinsah, stellenweise schon etwas erkennen, das später als "grüne Farbe" weltberühmt werden sollte), zerstörte Meeresfrüchte, schmatzend lockende Tabulatoren, irre Rehe und Esspapageien, die in relativ rascher Generationsfolge und großer Ordnung ein erfülltes Leben führten.
Der Inhaber des Geschäfts kam händereibend heraus und fragte den verrückten alten Mann: "Sind Sie der Geistliche, der das Gemüse segnen soll?" Nein, es war doch wirklich nicht zu glauben: Dieser Geschäftsmann, dessen alte Mutter hinter der Käsetheke senil vor sich hin sang, konnte einen Geistlichen, der das Gemüse segnen sollte, nicht von einem verrückten alten Mann unterscheiden, der ausgezogen war, um stark einzukaufen! Was für eine Welt!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen