die wahrheit: Die Paprika des Fakirs
Moderne Volkskrankheiten: Palindrome - die Pest des 21. Jahrhunderts.
Jeder kennt sie: Palindrome - Wörter, Sätze oder Satzgebilde, die sich sowohl von vorn als auch von hinten lesen lassen und im Extremfall vorwärts wie rückwärts die gleiche Buchstabenfolge aufweisen: "Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie." - "Es eilt, Liese!" - "Amore belebe Roma." - "Nie grub Ramses Marburg ein." - "Netter Slip tut Pils retten." - "Na, Fakir, Paprika-Fan?" - "Dir, Gisela, male Ina dein Kajak! Nie, Daniela, male Sigrid!"
"Zum Speien", sagt Udo Rothemund, der Präsident des Würzburger Verbands der Palindrom-Verächter (VPV). "Und es wird immer schlimmer! Ich meine, früher kannte man so zwei, drei Palindrome, durchschnittlich, wenns hochkam, und die hat vielleicht mal irgendein beschwipster Onkel auf einer Familienfeier zum Besten gegeben. ,Alle necken Ella' und so weiter. Aber heutigentags, im Internetzeitalter, wird man förmlich überschwemmt mit diesem Schmutz!" Zornig deutet er auf seinen Bildschirm. "Sehen Sie?"
Es stimmt tatsächlich: In rauen Mengen lauern dort die unsäglichsten Exemplare. "Erhöre nie eine Röhre" - "Ilona liegt geil an Oli" - "Pepe in Tahiti hat nie Pep" - "Tunk nie ein Knie ein, Knut!" …
Auf einem Spickzettel hat Rothemund Begriffe aufgelistet, die er aus dem Sprachgebrauch getilgt sehen möchte: "Grassarg", "Lagerregal", "Reliefpfeiler", "Retsinakanister" und "Gnubelebung" (rot unterstrichen). "Alle reden übers Dschungelcamp und solche Sachen, aber dass ein ganzes Volk darüber brütet, wie es immer abstrusere und dümmere Palindrome in die Welt setzen kann, davon spricht niemand!" Außer Udo Rothemund und seiner Frau Ida, den bis dato einzigen Mitgliedern des VPV.
"Herr Rothemund", erwidere ich, "ist es nicht besser, dass die Deutschen mehrheitlich irgendwelche sinnlosen Lautreihen erzeugen als beispielsweise Rüstungsgüter, Formfleisch oder Hitlerfilme?"
Diesen Einwand schiebt Rothemund mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite. "Hören Sie doch auf! Das Volk verdummt, wenn es den ganzen Tag mit närrischen Palindromen berieselt wird! Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden in der Schule richtiggehende Gedichte auswendig gelernt. Und heute saugt sich jeder Palindrome aus den Fingern. Wenn das so weitergeht, dann ist das Abendland nicht mehr zu retten!"
Rettender Retter, red netter, denke ich. Sei fein, nie fies! Doch das behalte ich für mich.
Udo Rothemund entkorkt eine Flasche Riesling, und seine Frau deckt Gläser auf. "Möchten Sie auch einen Schluck?"
"Nie Wein!", erkläre ich und fange einen misstrauischen Blick des Hausherrn auf, der bereits zu seiner nächsten Tirade ansetzt: "Ich habe ein Geheimpapier der Unicef gelesen. Da ist die Rede von Gehirnlähmung durch Palindrome. In mehr als einhundert Fällen! Das kann ich beeiden!" Lesen Esel? Die Rede - ist sie der Eid?
Es liege, fährt Rothemund leicht weinbefeuert fort, im Interesse des Gemeinwohls, die Bevölkerung vor weiteren Palindromen zu schützen. "Was die Menschen brauchen, ist geistige Nahrung! Und zwar höherwertige! Sie hungern danach!"
Das überzeugt mich nicht. Ich widerspreche: "Ein agiler Hit reizt sie. Geist?! Biertrunk nur treibt sie. Geist ziert ihre Liga nie!"
Einen Moment lang herrscht Stille. Udo Rothemund starrt mich an, und seine Kiefer mahlen. Dann bricht es aus ihm heraus: "Was erlauben Sie sich! Sie glauben wohl, Sie könnten Schabernack mit mir treiben! Dabei wissen Sie genau, dass ich gegen Palindrome allergisch bin! Wollen Sie meine Leiden etwa noch verschlimmern?" Darauf gibt es nur eine Antwort: "Bei Leid lieh stets Heil die Lieb."
"Ich glaube, Sie gehen jetzt besser", sagt Ida Rothemund, doch ich habe noch etwas hinzuzufügen: "Die Liebe ist Sieger, rege ist sie bei Leid!"
"Hinaus mit Ihnen!", brüllt Udo Rothemund. Ich ziehe meinen Mantel an und wende mich zur Tür, wobei ich noch eine winzige Kleinigkeit anmerke: "Die Liebe geht, hege Beileid …" - "Raus hier! Aber dalli!" - "O du relativ vitaler Udo!", kann ich Rothemund noch zurufen. "Adieu! Erfreue Ida!"
Und nu? Geist ziert Leben, Mut hegt Siege, Beileid trägt belegbare Reue, Neid dient nie, nun eint Neid die Neuerer, abgelebt gärt die Liebe, Geist geht, umnebelt reizt Sieg.
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