die wahrheit: Der Spargel der Erkenntnis
Wir aus der Schlauberger-Klasse lernen bis ins hohe Alter emsig und wacker. Dank unermüdlichen Fleißes verwandelt sich erfahrungsgemäß...
... in elektrisch hochgespannten Hirnen zunächst Information in Wissen und Wissen alsdann in Erkenntnis, beinahe wie von Zauberhand. Möge in dieser Lektion der Erkenntnisgewinn nicht zu geballt anrollen.
In knappen Worten erklärte neulich Herr Oberhummer, seines Zeichens Professor i. R. für Theoretische Physik in Wien, warum in jedem heutigen Menschen durchschnittlich über 20 Millionen Atome von Jesus Christus hausen. Allein aus Platzgründen ist mir versagt, den Berechnungsweg ausführlicher zu erläutern. Der Hintergrund sei nur skizziert: Zunächst gründet die Argumentationskette offenbar auf dem Umstand, dass lediglich ein Gramm der Gesamtmasse während der gesamten Lebenszeit im Körper ausharrt; binnen zehn Jahren erneuert sich beispielsweise das Skelett. Insofern scheint auch belanglos zu sein, ob jener Wanderprediger vor 2.000 Jahren vom Tode auferstanden und gen Himmel gefahren ist.
Im Übrigen sei angemerkt: Das Gewichtsverhältnis eines Atoms zu einem Gramm entspricht dem eines Kilogramms zum Erdball. Ferner entspricht das Größenverhältnis eines Atoms zu einem Apfel demjenigen eines Apfels zur Erde.
Tja, solche Einsichten muss man erst mal verdauen. Oder man schubst den Apfel vom Baum der Erkenntnis flugs beiseite. Die zahlengesättigte Erleuchtung steuert womöglich auf gänzlich andersartige Fluchtpunkte zu. Vorausgesetzt, diese Kaskade aus Potenzzahlen stimmt Pi mal Daumen, stellt sich die Frage, wie viele Atome von - um auf dem theologischen Terrain einigermaßen Balance zu halten - Mohammed in uns stecken? Intuitiv schwebt sogleich ein Heroe der Dichtkunst herbei: Wie viele Atome von Shakespeare bringen sich in diesen dürren Zeilen zur Geltung? Vergessen wir aber auch nicht das Böse schlechthin zu gewahren: Wie viele Atome von Hitler und Stalin brechen sich zur Sekunde Bahn?
Ja, der ein oder andere Schauer kriecht eiskalt über den Rücken, wo wiederum mindestens dreiundzwanzig Atome von Marcel Proust stecken, den wir einzig deshalb heranzerren, um eine winzige Wendung zu weiteren Erkenntnisprozessen einzuschlagen, Anwandlungen erregend, die sich angesichts der vorfrühlingshaften Witterung einstellen.
Wie der Rezension eines Buches über Proust zu entnehmen ist, trifft man darin auf eine Bemerkung, warum der Spargel ausgerechnet am Johannistag das letzte Mal in der Saison gestochen wird. Die Kritikerin verrät den Grund nicht. Wäre auch überflüssig. Nicht nur Sexmaniacs kennen die Auflösung längst. Hält man sich die Gestalt des Spargels vor Augen und addiert dazu die so plumpe wie irrige Redensart "Die Nase eines Mannes ist wie sein Johannes" - ist zum letzten Spargel-Stichtag alles gesagt. Wessen Atome in meiner Nase zu demaskieren wären, wage ich jedoch nicht zu entschlüsseln.
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