die wahrheit: Der Streichstabe
NORDZUNGEN Über die Schønheit der dänischen Sprache.
Die dänische Schriftsprache enthält etwas "Groffartiges" (Marcel Reich-Ranicki): einen Buchstaben, der tatsächlich nur zu dem Zweck geschrieben wird, gleich wieder durchgestrichen zu werden - das Ø.
Dabei ist das Ø kein O, das man eigentlich gar nicht schreiben wollte, kein falsch platzierter oder überflüssiger Buchstabe wie das zweite p bei Sirupp. Nichts, was genervt gelöscht wird, sobald man den Kopf wieder von der Tastatur hochbekommen hat. Nein, das Ø bleibt nach dem Durchstreichen gleichberechtigt neben den anderen Buchstaben stehen. Ein eigenwilliges Stück Zierrat in einer zweckorientierten Welt.
Diejenigen, die das Ø an ihrem Computer schreiben möchten: In Windows ist es hinter den Tasten ALT und 157 versteckt. Aber: Das Ø ist ein Buchstabe, der seiner Natur nach nicht am Computer, sondern per Hand geschrieben werden will. Denn nur bei archaisch Handgeschriebenem bereitet die Handlungsfolge Schreiben, Durchstreichen und Stehen lassen echten Genuss.
Diese Nichtletter, dieser Streichstabe, dieses "Da-bin-ich-aber-immer-noch"-O hat in der Mathematik eine Entsprechung. Dort ist es das Symbol für Durchschnitt, eines der wenigen deutschen Worte mit sieben Konsonanten am Stück, was nur noch von migrationslastigen Hybriden wie Borschtschschnellkochtopf übertroffen wird.
Hat das Schrift-Ø etwas mit dem Mathe-Ø zu tun? Gemeinsame Vorfahren? Ist eines von beiden die geheime Frucht einer morganatischen Verbindung des anderen? Fehlanzeige, leider. Über eine Verwandtschaft des dänischen Buchstabens mit dem internationalen Symbol ist nichts bekannt. Man hat nur, wie es auf jedem zweiten Ball zu beobachten ist, blöderweise das Gleiche an und darf sich deswegen gegenseitig für eine Ziege halten. Aber immerhin kann man wohl festhalten: Durchschnitt und Dänemark, das passt.
Selbstverständlich weiß der Autor, dass es sich beim Ø um einen Monopthong handelt, um einen Vokal, also keineswegs um etwas, das nicht da ist und lautsprachlich nicht umgesetzt wird. Das Ø ist der einzige Buchstabe, der zwar durchgestrichen, aber dennoch gesprochen wird. Da muss ein kalligrafisch daherkommendes Sütterlin-W doch mental zusammenbrechen: einmal durchgestrichen, ist seine ganze Pracht nichts mehr wert.
Um die Demütigung perfekt zu machen, besitzt das Ø sogar noch einen Mehrwert, eignet es sich doch hervorragend dazu, das Stottern zu erlernen und beim nächsten Mal dafür einen Oscar abzugreifen. "Ø?Ø?Ø?", könnte der Versuch sein, ødelægge zu sagen, was "zunichtemachen" heißt, oder ønske, was mit "Lust" übersetzt werden kann, oder einfach nur ø, was "Insel" bedeutet. Oder "drei Inseln", wenn es gar nicht gestottert war, sondern Absicht, zum Beispiel Lolland, Bolland und Holland.
Klanglich nähert man sich dem Ø übrigens, in dem man sich am Nordseestrand mit geöffnetem Mund in den Sturm stellt. Oder indem man "Öchsle" sagt und dabei das "chsle" weglässt. Die dadurch gewonnene Zeit nutze man zum Nachdenken darüber, weshalb es eine eigene Maßeinheit für das Mostgewicht gibt. Wiegt denn ein Kilo Weintrauben mehr als ein Kilo Østereier?
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