die wahrheit: Ohne ihn geht nichts
Gesellschaftlicher Alltag: Ein Hausbesuch beim kleinen Mann.
Er ist dieser Tage wieder gefragt. Seinen schmalen Schultern wird schwere Last zugemutet. Wie eigentlich immer, wenn "die da oben" Politik machen. Aber wer ist er eigentlich? Sehen wir uns den berühmten Unbekannten einmal genauer an. Besuchen wir den kleinen Mann.
Sollten Bundeskanzlerin Merkel und ihre Getreuen den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Atomzeitalter tatsächlich beschließen und die Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke einkassieren, wird der ein oder andere Atomlobbyist genüsslich den ein oder anderen Euro an Schadenersatz verlangen. Wer soll das bezahlen? Der kleine Mann natürlich - genauso wie den Euro-Rettungsschirm, die Bundeswehrreform und, und, und …
Für jemand, der fast täglich Milliarden an Euro bewegt, wohnt der kleine Mann erstaunlich bescheiden: in einer heruntergekommenen Zweizimmerwohnung in Berlin-Neukölln. Der einzige Luxus, den er sich leistet, steht direkt vor der Tür: ein tiefergelegter Opel Corsa, blau-metallic Effektlack, mit "dicken Schlappen und einem ordentlichen Ofenrohr", wie der kleine Mann, nicht ohne Stolz in der Stimme, erklärt.
"Heute ham se wieda angerufen. Mann, Mann. Erst der olle Schäuble. Wollte nachfragen, wegen so nem Schirm für Europa, der wohl ein paar Euros mehr kostet. Kurz danach klingelt die Merkel durch, die will wohl was stilllegen. Wahrscheinlich den Herrn Sauer oder so."
Das Telefon jedenfalls steht zurzeit nicht still. Dabei fing alles ganz harmlos an. In den Job ist der kleine Mann nach eigenen Angaben "einfach so reingerutscht". Nach dem Grundschulabschluss und einem kurzem Tête-à-Tête mit der Hauptschule, war er auf der Suche nach einer Arbeit. Anfänglich schien es der perfekte Job zu sein, denn keiner interessierte sich für den kleinen Mann. Gewerkschafter beklagten sogar, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot, würde der kleine Mann von den Politikern ignoriert.
Ungestört hätte er also an seinem Auto herumbasteln, sich jeden Abend in der Stammkneipe an den Stammtisch setzen und mit anderen Propheten über soziale Ungerechtigkeit, miese Löhne und fiese Politiker austauschen können. Sogar ein Urlaub auf Malle war jedes Jahr im Sommer möglich, erzählt der Kleine Mann wehmütig. Doch im Jahr 2008, als die Weltwirtschaftskrise die Finanzwelt unsanft aus ihrem Dornröschenschlaf weckte, erfuhr der kleine Mann plötzlich, dass er keinen normalen Nine-to-five-Job angenommen hatte.
"Heute ärger ich mich schon. Eigentlich wollte ich was schön Entspanntes machen. Pitbull-Dompteur oder so. Doch dann kam der Anruf vom Bundesfinanzministerium, die bräuchten Kohle. Ich hätte da doch so Beziehungen." Diese Beziehungen beruhen auf einem weit verzweigten System kleiner Männer, das sich über ganz Deutschland erstreckt. Es soll sie überall geben. In jeder Stadt, in jedem Dorf, selbst auf dem Land. Obwohl sie von Politikern, Wirtschaftsbossen und Arbeitgebern oft nicht wahrgenommen würden, sagt der kleine Mann, ginge letztlich nichts ohne sie.
Wie genau die Finanzierung eines kompletten Staatshaushaltes nun funktionieren soll, will der kleine Mann nicht recht erklären. Es scheint ihm fast peinlich zu sein. Verlegen nimmt er eine leere Bierflasche in den Arm und streichelt sie zärtlich. Nur, dass die kleinen Männer auch vor Landesgrenzen nicht halt machen, betont er noch.
Während die EU nicht müde wird zu demonstrieren, dass U nicht für Union, sondern für Uneinigkeit steht, sind die kleinen Männer Europas längst gut miteinander vernetzt. "Wir telefonieren uns zusammen. Meinen Job gibts ja europaweit. In England machts der Kollege ,Little Man', in Frankreich ,Le Petit Monsieur', und gerade besonders gefragt ist mein Kollege in Portugal, ,El Homezinho'. Der hat schon seit Wochen keine Zeit mehr für ne Plauderei."
Dann dröhnt plötzlich lautes Geschrei durch die dünnen Wände der kleinen Wohnung. Ein weiteres Gespräch ist unmöglich. Nahezu infernalischer Lärm lässt die vielen leeren Flaschen auf dem Teppichboden erzittern. "Sorry. Das ist der Wutbürger. Der wohnt nebenan. Dem gehn wohl mal wieder die da oben auf den Sack", brüllt der kleine Mann, den Krach entschuldigend, und zieht noch einen ordentlichen Schluck Bier weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind