die wahrheit: Zäsur in Zuffenhausen
UNTERGANGSVISION Nach dem Zerfall der CDU-Herrschaft steht der Wirtschaft in Baden-Württemberg nun eine Zeitenwende bevor.
Bewohner wie Besucher der baden-württembergischen Landeshauptstadt staunten nicht schlecht: Die traditionell gelb-schwarzen Wagen der Stuttgarter Straßenbahn waren über Nacht umlackiert worden und erstrahlten nun in einem topaktuellen Grün-Rot mit Metallic-Effekt. Und nicht nur das - auf dem Turm des Stuttgarter Hauptbahnhofs drehte sich nicht mehr der riesige Mercedes-Stern, sondern die lachende Anti-AKW-Sonne. Der Zerfall der CDU-Herrschaft verändert nicht nur das Bild der "Weltstadt zwischen Wald und Reben", er bedeutet auch Zäsur in Zuffenhausen, Zeitenwende im Zabergäu.
Vor dieser "historischen Wende" haben viele Wirtschaftsvertreter im Autoland Baden-Württemberg vergeblich gewarnt. "Die Grünen sind eine Partei, die mit der Autoindustrie nichts am Hut hat. Die haben einfach kein Gefühl im Gasfuß", wetterte beispielsweise vor der Landtagswahl der Unternehmer Ludwig Kolb in der Wirtschaftswoche. Die Tirade des Mittelständlers, der als Zulieferbetrieb Spoiler für Porsche herstellt, war symptomatisch. Doch nun hat der Souverän entschieden, und in Ba-Wü müssen zwei Lager zusammenfinden, die sich bisher ständig zofften: hier der bienenfleißige Mittelstand sowie Weltkonzerne wie Daimler, Porsche, Bosch und SAP. Auf der anderen Seite Wollsockenfundis, die mit dem Wachstumswahnsinn nichts anfangen können und Nachhaltigkeit predigen.
Es gibt schon lange reichlich Streitpunkte. Im Wirtschaftslager gelten die Grünen noch immer als "Chaoten". Und in der Frage der Atomkraft sind die Lager sowieso traditionell voneinander getrennt. Umso stärker fällt ins Gewicht, dass das Land beim Stromversorger EnBW neuerdings einen Anteil von 45 Prozent hält und die Grünen demnächst im Aufsichtsrat des Konzerns vertreten sein werden, der vier der 17 deutschen Atommeiler betreibt. "Und schaltet die grün-rote Regierung auch noch alle AKWs ab, wird es im Südwesten endgültig zappenduster", formuliert Kolb seine mittelständische Untergangsvision. Dem widerspricht der Grüne Thomas Volkert vehement. Sein Plan, die stillgelegten AKW-Kühltürme zu riesigen Speichern für Biomasse umzubauen, werde die Energieversorgung der Spätzle-Ökonomie auf lange Sicht sicherstellen.
Da sich nun aber beide Seiten gezwungenermaßen zusammenraufen müssen, wird auch in den Chefetagen der Wirtschaft heftig über einen grünen Umbau gebrainstormt. Vor allem im Kerngeschäft des Landes, dem Autobau, müssen sich die neue Regierungspartei und die alten Erfolgsunternehmen einander annähern. Die Autokonzerne werden mit dem neuen Ministerpräsidenten einen unbequemen Partner haben, der ihnen manchen ungebetenen Rat geben wird. Und dennoch - manche Vertreter der Wirtschaft äußern sich in ersten Kommentaren auch begeistert über den Wechsel und die neuen Möglichkeiten im Ländle. Ganz im Sinne der veränderten politischen Großwetterlage erklärt ein Daimler-Sprecher: "Die Industrie ist zum Dialog bereit. Bei der neuen S-Klasse wird das S für Slow stehen. Slow drive wird der automobile Trend einer neuen Ära." Und nachdem sich Daimler so eindeutig zur Abkehr von der Vollgas-Ideologie bekannt hatte, musste auch der zweite Autobauer nachziehen. In der Porsche-Firmenzentrale in Zuffenhausen wurde der erste Entschleunigungs-Porsche angekündigt: ein mit einem 16-PS-Diesel-Einzylinder betriebener Slow-motion-Bolide, der die Tradition der legendären Porsche-Traktoren der Fünfziger Jahre wiederaufleben lässt. Bei so viel Zeitenwende kann natürlich auch der Sport nicht zurückstehen. Der traditionell von CDU-Seilschaften durchsetzte VfB Stuttgart (Mayer-Vorfelder!), der in dieser Saison das S-21-Bahnhofsprojekt der Landesregierung für sich so interpretierte, ebenfalls unterirdisch spielen zu müssen, kann nun endlich aufatmen. Völlig losgelöst von allen alten Zwängen will sich der Verein für Bewegungsspiele in Zukunft an die Devise der S-21-Gegner halten und auch in der Liga oben bleiben.
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