die wahrheit: Die Angst ist ein Teufel
Nach den gewalttätigen Übergriffen Rechtsextremer auf Gegendemonstranten sowie türkischstämmige Passanten am vergangenen Wochenende ...
... im Berliner Stadtteil Kreuzberg zeigt sich die Berliner Polizei offiziell "erschrocken" über die Brutalität der Neonazis. Damit habe man "in dieser Form nicht gerechnet", heißt es aus Sicherheitskreisen in der Nachbereitung des NPD-Aufmarschs.
"Huh, da bin ich richtig zusammengezuckt und habe vor Schreck gequiekt", berichtet uns der am Einsatz beteiligte Polizeiobermeister Peter Recke. Die Furcht steht ihm noch immer ins Gesicht geschrieben. "Die Nazis haben auf einmal ganz laut gebrüllt und sind ganz schnell gerannt!" Derart wühlt die Erinnerung den bedauernswerten Beamten auf, dass er leise zu weinen beginnt. Doch rasch fängt er sich wieder und erzählt mit stockender Stimme weiter: "Die haben die Leute dann richtig gehauen und dabei wahnsinnig böse geguckt. Das sah so schlimm aus, dass ich mich umdrehen musste. Viele meiner Kollegen sind dann auch weggelaufen."
"Ja, wir haben jetzt leider viele solcher Fälle", bestätigt der begleitende Polizeipsychologe Lennart Reichenberger. "Von den sechshundert Einsatzkräften an diesem Tag sind etwa zwei Drittel in Behandlung: unkontrolliertes Zittern, Schlafstörungen, Schweißausbrüche. Allein schon der Anblick eines Rechtsabbiegers kann Panik auslösen. Die Angst ist ein Teufel!" Er spricht in normaler Lautstärke, obwohl Obermeister Recke direkt daneben sitzt. Doch die Außenwelt scheint den schwer Traumatisierten kaum mehr zu erreichen. "Stellen Sie sich das bloß mal vor: Sie sind Polizist und freuen sich auf einen wunderschönen Naziaufmarsch mit Bratwürsten und Blumengirlanden, und dann das! Es ist einfach nicht mehr wie früher?"
Da hat er allerdings recht. Was waren das noch für Zeiten, als die rechtsradikalen Spaßdemos über die Landsberger Allee im herrlichen Bezirk Marzahn-Lichtenberg marschierten, zur Freude von Groß und Klein, Jung und Alt. Lachende Kinder auf den Schultern ihrer Väter säumten die Demonstrationsstrecke und versuchten die von knuffigen Glatzköpfen in die Menge geschleuderten braunen Bonbons und kleinen Hitlerteddybären, bei denen nur der rechte Arm beweglich war, zu erhaschen. Lustige Naziclowns, die sich Hakenkreuze ins Gesicht geschminkt hatten, jonglierten mit Teleskopschlagstöcken und jagten Ausländer mit Sahnetorten. Hei, das gab immer ein großes Hallo und Gelächter, wenn sie einen erwischten. In den Redebeiträgen wurden Migranten sehr höflich darum gebeten, doch bitte das Land zu verlassen, weil die Deutschen sonst sehr traurig wären, und bei der Forderung nach der Todesstrafe für Sexualstraftäter war ein bedauernder Unterton deutlich herauszuhören.
Die selbstkritische Einsicht, dass es sich gerade bei Rechtsradikalen durch die Bank um verklemmte Kriminelle mit Bettnässervorgeschichte handelt, war nämlich damals durchaus noch vorhanden. Und das tat der Sache sehr gut, denn dadurch bekamen die Naziaufmärsche immer etwas selbstironisch Gebrochenes, was ihnen eine unvergleichliche Atmosphäre der Heiterkeit und Lockerheit verlieh. Freundliche Polizisten schützten den friedlichen Zug, indem sie antifaschistische Blockierer sanft und mit einem Augenzwinkern beiseite prügelten. Alles war Harmonie pur.
Auf einmal unterbricht Recke unsere schönen Erinnerungen, denn der Obermeister scheint doch tatsächlich für einen kurzen Moment aus seiner Agonie zu erwachen. "Das ist so ungerecht", stammelt er müde. "Wir wollten die doch nur vor dem linken Pack beschützen." Dann schweigt er, und starrt mit leerem Blick über den Rasen des Polizeinervensanatoriums am Wannsee hin zum nahen Waldrand, als könne dort jederzeit ein schrecklicher Nazi zwischen den Buchen hervorbrechen und sich wie ein angeschossener Keiler auf ihn stürzen.
Beruhigend streichelt Reichenberger die kräftige, braune Hand des Patienten, die sich zitternd um die Lehne des gepolsterten Liegestuhls krallt. Hier dürfte noch eine Menge Arbeit vor ihm liegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich